Versuch über das Unberechenbare
Wir sind ständig mehr oder weniger heftig von ihm umgeben und doch hat der Wind etwas Unfassbares. Und anders als die Elemente Wasser, Erde und Feuer ist Luft für uns stets zum Überleben notwendig. Unsichtbar zeigt er seine Kraft und Geschwindigkeit nur, wenn er Materielles aufwirbelt und vor sich her treibt. Der Wind bringt immer Veränderungen mit sich – manchmal drastisch erkennbar, ein anderes Mal kaum sichtbar. Dieser Dualismus von Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit, die chaotische Struktur des Windes, in der eine je eigene Ordnung oder dialektische Pose steckt, ist für uns zumeist nur ein Wetterphänomen. Das Buch von Rainer Guldin lehrt uns jedoch, dass viel mehr dahinter steckt.
Bereits Aristoteles und Descartes sind über die Himmelsbetrachtung zu den Meteoren gelangt, die der Autor als etwas, das „erhoben (ist), in der Luft schwebend“ erklärt. Dabei bedeutet das Präfix meta eine Zwischenstufe, einen Wechsel“ an. Bei Aristoteles umfasste der Begriff nicht nur ein Wetterphänomen, sondern auch die Milchstraße, Flüsse und das Meer. Ein Teil der Natur also, die jedoch wesentlich schwieriger zu begreifen und zu definieren ist. Diesem Unbegreiflichen, mit vielen fantastischen Erklärungen behaftet, wollte Descartes etwas Vernünftiges entgegensetzen, um einen rationalen Zugang zu ermöglichen. In der Antike blieben die Meteore und damit auch der Wind jedoch „ein kosmischer Tanz“, in dem jedes Element in einem gegensätzlichen Bezug zueinander steht und doch ein Zusammenklang des Dissonanten entsteht.
Der Wind als Metapher
Mit der Vertreibung aus dem Paradies, das als wetterlos in der biblischen Genesis beschrieben wird, ist der Wind in die Menschheit getreten und sorgt für teils drastische Veränderungen des Klimas. Der Begriff stammt aus dem Griechischen und bedeutet Neigung des Sonnenstandes und kennzeichnet eine Abweichung (Clinamen). Doch gäbe es sie nicht, würde „nichts Neues entstehen“. Ebenso deutet der Begriff Metapher auf eine Abweichung hin “ eine sogar „zweifache De-viation vom Linearen und Wörtlichen“ und ergibt am Ende eine sprachliche Übertragung aus der Turbulenz heraus. Meteore und Metapher ähneln sich also in gewisser Weise in ihren Eigenschaften.
Der Wind hat viele Stimmen und damit wird seine unsichtbare Präsenz ins Sichtbare überführt. Engel gelten in manchen Religionen als Wesen, die vom Himmel über den Wind zu den Menschen getragen werden. Der Wind vermittelt Körpererfahrungen und hat sich in bildhaften Märchen, wie in der Geschichte vom fliegenden Robert manifestiert. Die asiatische Kultur am Beispiel Japans findet eine andere Sprache für ihn und mit ihr zeigt sich auch eine je verschiedene Lebensweise.
Das außergewöhnlich kluge und sehr interessante Buch des Autors Dr. Rainer Guldin vermittelt einen erweiterten Blick auf den Wind, auch jenseits des Wetterphänomens. Er wird seines „Lost of Paradise Image“ beraubt und in eine Metapher verwandelt, mit der wir den Wind in anderen Zusammenhängen betrachten können.
Das Buch lässt uns wie der Wind vom Alltag abheben, wir wundern uns und staunen. Die Betrachtungen des Windes hängen von der Gegenwart und Kultur ab, in der wir uns befinden, und hält, denkt man an die Zukunft, Überraschungen bereit, die leider nicht sehr verheißungsvoll sind. Sie sind Resultat auch der menschlichen Blindheit gegenüber der Umwelt und Natur.
Ein Buch, das für neugierige und wissensbegierige Laien nur zu empfehlen ist und für Forschende aller Disziplinen ein Muss.
Rainer Guldin – Philosophie des Windes Versuch über das Unberechenbare
ISBN 978-3-8376-6843-8
416 Seiten
Verlag: transcript Verlag
Rainer Guldin (Dr. phil.), geb. 1954, ist ehemaliger Professor für deutsche Kultur an der Università della Svizzera italiana in Lugano (Schweiz). Er ist Editor-in-Chief des seit 2005 publizierten multilingualen Open-Access-Journals »Flusser Studies«. Seine Forschungsschwerpunkte sind Theorie der Metapher, Mehrsprachigkeit und Übersetzung.