Am 10.April haben wir ein sehr ausführliches und interessantes Interview mit Wolfgang Niedecken in Köln geführt: über sein Zeitreise / Live im Sartory – Album, die im Herbst beginnende dazugehörende Tour und vieles mehr.
DKB: Herr Niedecken, am 31.10. dieses Jahres beginnt Ihre Tournee „BAP Zeitreise 81/82“. Dabei wird die Band alle Songs der in diesen Jahren erschienenen Alben „für usszeschnigge!“ und „Vun drinne no drusse“ spielen, mit denen Sie ihren Durchbruch bzw. ihren größten kommerziellen Erfolg hatten. Andere Musiker in ihrem Alter arbeiten, wenn sie überhaupt noch aktiv sind, an ihrem Alterswerk, während Sie sich Ihrem Frühwerk zuwenden. Was hat Sie zu diesem Projekt bewogen? Ist diese Rückkehr zu ihren musikalischen Anfängen eine sentimentale Nostalgie?
WN: Also das mit dem Alterswerk zunächst einmal. Ich arbeite seit Jahren an meinem Alterswerk. Es hat ja keiner geglaubt, dass wir in den 90er-Jahren immer noch angesagt sein würden. In den Nuller-Jahren noch und in den 10er-Jahren immer noch. Ich arbeite also seit ungefähr 30 Jahren an meinem Alterswerk. Eins nach dem anderen. Klar, es gibt Kollegen, die versuchen, ihre erfolgreichste Phase über Jahrzehnte zu strecken und dann mehr oder weniger immer die gleichen Konzerte spielen. Bis irgendwann einmal die Leute sagen „Das interessiert mich jetzt nicht mehr. Das hab‘ ich schon tausendmal gehört“. Wir haben immer abgeliefert. Wir haben uns immer erneuert. Neue Platten gemacht und immer nur dann etwas abgeliefert, wenn wir auch selbst davon überzeugt waren, dass es gut ist. Das war unser wichtigstes Kriterium. Wenn wir es gut finden, dann können wir es rauslassen. Wenn wir irgendwelche Bedenken haben, dann lassen wir es besser. Dann müssen wir eben noch so lange daran arbeiten, bis wir es gut finden. Das ist eigentlich völlig normal.
DKB: Also, Ihre Zeitreise Tournee hat mit Nostalgie nichts zu tun, also mit einer sentimentalen Rückkehr zu Ihren Anfängen?
WN: Überhaupt nicht. Also, Nostalgie ist so ein Begriff, mit dem ich immer meine Probleme habe. Das ist ja die Sehnsucht nach der Vergangenheit. Ich lebe gerne in der Gegenwart, im Hier und Jetzt. Ich lebe gerne. Vor allen Dingen immer gerne in meiner familiären Situation. Ich habe vier erwachsene Kinder, drei Enkel. Ich fühle mich geliebt, es ist alles wunderbar. Ich kann arbeiten. Ich brauche nur das zu tun, was ich gern tue. Ich habe ja Malerei studiert in der Kunsthochschule schräg gegenüber. Ich mache nur, was ich gerne tu und kann davon leben. Ist das nicht großartig? Ich bin gerade 73 geworden und freue mich des Lebens. Das ist wunderbar! Wenn die weltpolitische Lage nicht gerade so wäre, wie sie ist, würde ich ein sorgloses Leben führen. Also, die Sorgen kommen von außen.
DKB: Bereits im Dezember 2023 gab es einige „Zeitreise“-Konzerte, die in den Kölner Sartory-Sälen, die mitgeschnitten wurden und am 26. April als LP bzw. CD herauskommen. Wie sind denn diese Konzerte gelaufen?
WN: Sensationell. Ich versuche jetzt einmal diese Zeitreise-Geschichte von Anfang an zu erzählen. Unser letztes Album, was wir mit BAP gemacht haben, war ja das Album „Alles fließt“. Und die Tournee zu dem Album musste um ein Jahr verschoben werden. Auch mein 70. Geburtstag musste verschoben werden auf den 71. Als wir dann endlich die Stücke von dem Album spielen konnten, dachten wir „Jetzt haben wir dieses Album, auf das wir so stolz sind, irgendwie den Leuten überhaupt noch nicht vorspielen können. Und da habe ich mir gedacht, ich muss möglichst viel von dem Album auf die Setliste setzen. Das ist klar, wenn man für ein BAP-Konzert 30 Positionen zur Verfügung hat, also wenn man 30 Songs spielen kann, Pi mal Daumen, und du spielst dann zehn Song von dem neuen Album, dann ist logischerweise jedes dritte Stück von dem neuen Album. Dann läufst du Gefahr, dass die Leute das gar nicht kennen, weil das neue Album noch nie gehört haben. Wenn man in ein Konzert geht und hört einen neuen Song, da kann man sich auf Anhieb eigentlich keine Meinung bilden. Das ist einfach zu viel verlangt. Und das ist mir auch klar. Diese beiden Alben („für usszeschnigge!“ und „vun drinne no drusse“, DKB) das waren Million- Seller. Die Songs kennt jeder. Und deswegen, um das auszugleichen, habe ich zwischen diese neuen zehn Songs jeweils zwei Stücke gepackt, die jeder kennt. Damit man wieder gespannt ist „Ah, was kommt jetzt? Jetzt kommt etwas Neues, dann wieder etwas Vertrautes.“
Das hat dazu geführt, dass ich relativ viele Stücke von diesen beiden Alben draufhatte, die wir Jahrzehnte nicht mehr gespielt hatten. Die Leute waren unfassbar gerührt davon. Die haben es gar nicht fassen können, dass wir die noch mal spielten. Teilweise hatten sie Freudentränen in den Augen. Da lag so ein glückseliger Glanz über dem Publikum. „Echt, die spielen das noch mal!“ Die waren so überglücklich. Das konntest du sehen. Und das triggert bei mir natürlich auch was los. Da habe ich mich gefragt „Wieso sind die jetzt so glücklich?“. Irgendwann stand der Entschluss „Jetzt lass‘ uns doch mal eine Tournee spielen, bei der kein Song jünger ist als vierzig Jahre. Lass uns doch einmal beide Alben komplett spielen und dann ein paar Songs von den ersten beiden Alben.
Dieses Konzept habe ich ausgearbeitet und mit der Band und der Plattenfirma gesprochen. Und die haben gesagt „Wir nehmen das als Livealbum auf, bevor wir auf die Tournee gehen.“ Das ist ja fast ein Widerspruch. Normalerweise machst du ein Livealbum im Laufe einer Tournee. Aber hier war das eine Voraussetzung, dass wir ein Livealbum aufnehmen, damit die Leute auch zur Tournee hinkommen und weil sie wissen, was wir da machen. Und wir haben das dann in Köln im „Sartory“ aufgeführt, in einem Saal, in dem wir 1980 zum ersten Mal gespielt haben. Das war damals für uns ein ganz großes Ding. Zweitausend Leute waren da. Wir hatten Muffe gehabt wie nur was. Und dort haben wir dann bis 1985 die großen Kölner Konzerte gespielt, manchmal ein paar Tage hintereinander, haben einmal sogar eine ganze Woche gespielt.
Uns klar, wenn wir das so weiter machen, dann wären wir nur noch unterwegs. Das ging nicht mehr, dann mussten wir doch in die nächstgrößere Halle gehen. Und ich hatte immer ein bisschen Schiss: Wenn ich das Weiße in den Augen der Leute nicht mehr sehen kann, dann kriegen wir die BAP-typische Magie nicht mehr rüber. Gott sei Dank hat man uns dann überredet, in die Sporthalle zu gehen. Und das war dann auch gut. Die haben wir dann auch teilweise drei-, viermal hintereinander gespielt. War alles gut, alles wunderbar. Die nächste Halle wurde erst viel später gebaut, die Kölnarena, wo 18.000 Menschen reinpassen. Mittlerweile spielen wir dort.
DKB: Gibt es bei Ihren Konzerten eigentlich ähnlich wie bei den legendären britischen und US-amerikanischen Rockbands einen generationsübergreifenden Effekt, dass Jung und Alt im Publikum nebeneinanderstehen und ihre Musik hören?
WN: Auf jeden Fall. Ich sehe Leute, die damals schon mit ihren Kindern auf den Konzerten waren, wo mittlerweile die Kinder der Kinder mit dabei sind. Also, das ist herzergreifend schön. Na gut, damals in den 1960er-Jahren hatte man sich gesagt, wenn die Stones irgendwann einmal über vierzig sind, dann wird das Thema gegessen sein. Mittlerweile sind die über achtzig! (lacht).
DKB: Da müssen wir gleich mal nachfragen. Wie war das denn, als sie das erste Mal mit den Stones aufgetreten sind? Das war wohl 1982 im Müngersdorfer Stadion vor über 60.000 Fans.
WN: Damals sind wir zweimal mit denen aufgetreten. Das war im Juli 82. Fritz Rau hat das Konzert veranstaltet und für das Zusatzkonzert ist der Vorverkauf ins Stocken geraten. Da passierte nichts mehr. Das war genau zu der Zeit, als überall im Radio „Verdamp lang her“ lief. Und da hatte Fritz Rau die Idee und sagte sich „Diese Band, die momentan im Radio läuft, die packen wir davor“. Der hat dann bei uns angerufen und wir haben gesagt „Wenn, dann spielen wir beide Konzerte. Nicht nur das, wo der Vorverkauf nicht läuft. Wenn, dann beide. Und das war sensationell. Nach dem ersten Konzert erzählte mir Fritz Rau später, dass er mit Jagger zusammen im Auto ins Stadion gefahren ist, backstage, als wir gerade „Verdamp lang her“ spielten. Und dann gibt es diese wunderbare Frage an Fritz Rau gerichtet „What the hell is this, Fritz? – Was zum Teufel ist das denn jetzt hier?“ Zu dem Zeitpunkt waren die Kölner unfassbar stolz auf ihre Band, dass die vor den Stones spielten. Wir hätten wahrscheinlich ‚Hänschen klein‘ rückwärts spielen können, die hätten uns abgefeiert (lacht).
DKB: Aber zusammenspielen, das macht man ja nicht, das war ja Vorprogramm, oder?
WN: Ja, das war Vorprogramm. Aber es war sehr nett. Ich habe dann damals sogar Mick Jagger mal kennengelernt. Der war wirklich sehr kollegial
DKB: Wie bitte, die „Glimmer Twins“ Jagger/Richards keine abgehobenen Superstars, die Ihnen das Gefühl haben, in einer anderen Liga zu spielen?
WN: Nein, gar nicht. Vor allem Keith Richards. Den habe ich später kennengelernt. Das ist ja mein Liebling. Der ist so großartig. Und es geht ihm auch wieder gut. Der überlebt noch alle. Also, der Club 27, der hat bei ihm da irgendwie nicht funktioniert. Diese Typen, die da alle mit 27 gestorben sind. Und Keith Richards ist dem Sensenmann durch die Lappen gegangen.
DKB: BAP hat sich ja von einer anfänglichen Hobbyband, die sich gelegentlich traf, um die Musik ihrer Idole zu spielen, zu einer der beliebtesten deutschen Rockbands entwickelt. Hatten Sie denn vielleicht irgendwann einmal vor Ihrem Durchbruch mit dem Album „BAP für usszeschnigge!“ das Gefühl, da kommt etwas Großes auf Sie zu?
WN: Nein. Ich hatte ja ein abgeschlossenes Studium. Ich war mit der Malerei eigentlich schon ziemlich weit. Ich hatte schon in guten Galerien und Museen ausgestellt. Es lief eigentlich alles gut. Plötzlich ging das mit der Hobbyband ab. Da habe ich mir insgeheim gedacht, das machst du mal ein, zwei Jahre und dann gehst du wieder ins Atelier. Ja, das ist dann ein bisschen länger geworden. Ich habe auch nicht mehr darüber nachgedacht. Irgendwann, muss ich ehrlich sagen, habe ich mich in meiner Rolle so wohlgefühlt, da habe ich die Malerei auch nicht vermisst. In „Verdamp lang her“ kommt ja die Zeile vor, dass es egal ist, ob man laut malt oder leise. Und irgendwann war das für mich selbstverständlich. Wir machen eine Platte, die Leute hören die, wir gehen auf Tournee und dann überlegen wir uns die nächste Platte. Ich habe überhaupt nicht darüber nachgedacht, dass das irgendwann einmal aufhören könnte.
DKB: Ihre Lieder singen Sie ja auf Kölsch, also in einer Mundart, die außerhalb von Köln schwer verstanden wird. Haben Sie eine Erklärung dafür, warum trotz dieser Sprachbarrieren BAP so erfolgreich ist und die Fans in den Hallen im Rheinland ebenso mitsingen wie in Bayern und Sachsen?
WN: Das liegt daran, dass wir in der richtigen Zeit das Richtige getan haben. Instinktiv. Wir hatten überhaupt keinen Karriereplan und haben nicht gedacht, dass das überhaupt etwas werden würde. Ich habe einfach in meiner Muttersprache gesungen, in der Sprache, mit der ich aufgewachsen bin. Also bei uns im Elternhaus, da haben wir nur Kölsch geredet. Ich musste bei meiner Einschulung tatsächlich meine erste Fremdsprache lernen. Ich hatte ja vor zwölf Jahren einen Schlaganfall, und nach dem Schlaganfall hatte ich Wortfindungsprobleme. In Hochdeutsch. Und nun ruft ein kölscher Freund bei mir an und mit dem habe ich mich dann ohne irgendwelche Probleme fließend unterhalten. Alle Worte waren da. Kölsch ist meine Muttersprache, die Sprache meiner Seele. Und da ist es dann auch ganz natürlich, dass ich darin auch am besten singen kann. Also, damals war das so, dass die Leute das instinktiv begriffen haben, dass diese Band authentisch ist. Und Authentizität hat ja auch immer etwas mit Glaubwürdigkeit zu tun. Die Leute außerhalb des Rheinlands haben sich einfach bemüht, dahinterzukommen, was ich denn da singe. Das haben die bei anderen nicht unbedingt gemacht. Es gibt ja auch Bands, die hessisch singen oder bayerisch, da war das nicht so. Und selbst bei den Wiener Bands, bei dem Kollegen Ambros hat das irgendwo am „Weißwurstäquator“ aufgehört. Diesseits des Mains war da Ende.
DKB: Sie haben ja weit über 200 Songs geschrieben. Hinzu kommen zahlreiche Coversongs auf Kölsch von legendären Musikern wie Lennon/McCartney, Bob Dylan, Leonhard Cohen und anderen. Haben Sie schon einmal Angst gehabt, dass Ihnen die Ideen für neue Projekte ausgehen könnten?
WN: Das habe ich eigentlich immer! Nach jedem Song denke ich, das war jetzt bestimmt der letzte. Jetzt fällt mir nichts mehr ein. Wenn ich das dann meiner Frau erzähle, sagt sie dann: „Ja, klar. Dir fällt nichts mehr ein! (lacht).
Mittlerweile bin ich da sehr entspannt. Vor allen Dingen, weil ich auch weiß, dass ich ein riesiges Repertoire habe. Ich bräuchte keinen einzigen Song mehr schreiben, ich könnte immer weiter auf Tournee gehen, weil das Repertoire dermaßen groß ist. Und dann auch noch mit dem Wissen, dass die Konzerte der „Zeitreise“, die wir ab Oktober spielen, mehr oder weniger alle ausverkauft sind. Die Leute lieben es, wenn sie etwas Vertrautes hören. Also der Anreiz, jetzt unbedingt etwas Neues zu schreiben, ist für mich nur persönlich da. Ich habe eben einen ziemlich großen Gestaltungswillen, ich möchte gestalten können. Aber ich kann mich auch in der Malerei austoben. Das ist alles wunderbar. Nur habe ich immer zu wenig Zeit.
DKB: Sie haben ja auch in ihren Songs immer wieder politisch Stellung bezogen. Songs wie „Südstadt verzäll nix“ oder „Kristallnaach“ sind heute immer noch erschreckend aktuell. Macht es Sie nicht manchmal mutlos, dass angesichts fortschreitender Gentrifizierung der Städte und wachsendem Rechtsradikalismus Sie mit Ihren kritischen Songs nicht die erreichen, auf die es ankommt?
WN: Das ist das Problem. Mittlerweile hat sich die Radiolandschaft, die ganze Medienlandlandschaft komplett geändert. Da geht viel über Internet. Radio ist mehr oder weniger fast machtlos. Es gibt das Radioformat. Da wird festgelegt, ab wann der Refrain zu kommen hat, wie lang ein Stück überhaupt sein darf, welche Instrumente besser vermieden werden. Das gibt es alles. Also, Radioformat, das ist etwas Furchtbares, das ist der Tod der Musik, der Tod der Kunst. Und es muss immer alles „uplifting“ sein. Das heißt also, ein Stück wie „Ruhe vor’m Sturm“ vom vorigen Album (=„Alles fließt“, DKB) , was ein ganz eindeutiges Stück ist gegen Populismus, das läuft vielleicht einmal im Radio auf dem Sender, wo die Platte vorgestellt wird, kommt aber niemals in die Rotation. Und das ist natürlich ein großes Problem. Irgendwie musst du es ja schaffen, an die Leute heranzukommen. Meistens schaffen wir das jetzt über das Internet. Also über Facebook oder Instagramm, wo wir unsere Kundschaft darüber informieren, was wir tun. Aber wir kommen darüber hinaus nicht an die Leute ran. Die laden mich beim Fernsehen oder im Radio eher zu einer Gesprächsrunde ein, als meine Songs zu spielen. Das ist irgendwie widersinnig. Da muss ich denen dann ab und zu mal sagen: „Leute, tut mir mal einen Gefallen. Wir haben das und das und das Stück zu dem Thema. Lasst das doch mal laufen!“ Das ist dann schon frustrierend, dass so etwas nicht passiert.
DKB: Natürlich kann man mit einem Song nicht gleich die ganze Welt verändern, aber es gibt doch bestimmt etwas, was Sie sich als Musiker zu erreichen hoffen, oder?
WN: Also, was wir als Künstler können, ob das nun auf Konzerten ist oder mit einem Interview oder mit Songs, was wir können, ist die Leute empfänglich für Empathie zu machen. Viele Menschen verhärten. Wir merken, dieses Friedliche, diese Hippie-Kultur, das ist passé. Das war mal das Lebensgefühl der 60-er und 70-er Jahre. Das ist vorbei. Aber ich bin froh, dass ich das miterleben durfte. Denn da habe ich auch irgendwo meine Wurzeln. Ich kann nur sagen, ich lebe nach meinen Werten und ich versuche, das zu vermitteln. Und vielleicht auch ein bisschen Mut zu machen. Dass man sich nicht unterkriegen lässt. Das ist natürlich schwierig zu vermitteln. Die Zeiten sind sehr, sehr kompliziert geworden. Die Welt wird immer kleiner, die Menschheit immer größer. Es gibt so viele Probleme, die ungelöst sind. Da kann man schon schlaflose Nächte bekommen.
DKB: Die Songs von Bob Dylan, die ja voller Wortspiele und rätselhafter Metaphern sind, waren für Sie eine Art kreative Initialzündung. Manche seiner Songs haben Sie auf Kölsch gecovert. Es ist doch bestimmt schwierig, ein deutsches Pendant für diese spezielle Dylan-Lyrik hinzubekommen, das einen ähnlich wie das Original in seiner Wirkung berührt. Mit einer Übersetzung ist es da doch nicht getan, oder?
WN: Also es gibt Stücke, von denen man besser die Finger lassen sollte.
DKB: …. Und das haben Sie wie herausgekriegt?
WN: Durch „trial and error“. Es gibt Stücke, da habe ich lange dran gearbeitet, bis ich damit zufrieden war. Vor allem gebe ich mir im Laufe der Jahre viel mehr Mühe, die Stücke möglichst werkgetreu zu übersetzen. Ich habe ja ein ganzes Album mit Dylan-Songs gemacht, da war der eine oder andere dabei, der leider sehr weit von der Werktreue entfernt war.
DKB: Aber der Song ‚Wie ‚ne Stein‘ zum Beispiel vom Album „vun drinne noh drusse“ gehört doch nicht dazu. Der ist doch eigentlich eine gelungene Nachdichtung, oder?
WN: Der ist o. k. Das ging verhältnismäßig gut. Der war ja einer der ersten Dylan-Cover von mir überhaupt. Da ging es ja um die Haltung von dem Typ, der dieses Mädchen wiedertrifft, die ihn einmal hochnäsig behandelt hatte und mittlerweile tief gefallen ist. Du musst diese Haltung verstehen, von der gesungen wird, und dann schafft man das auch. Aber sagen wir mal so ein Stück wie ‚Desolation Row hinzukriegen, das ist schon schwierig. Dass man nicht denkt „Oh, Gott! Was hat der denn daraus gemacht?“ Bei menen frühen Stücken denke ich von dem einen oder anderen heute „Mensch, da hättest du besser noch bisschen mehr überlegen können!“ Aber andere sind dafür gut gelungen. So ist das eben. Aber dieses Album, das wir mit den Dylan-Songs gemacht haben, das war ein Solo-Album. Die Texte, die ich dafür übersetzt habe, waren eigentlich überhaupt dafür angelegt, sie zu veröffentlich. Irgendwann kam die Idee „Lass uns das doch mal machen!“ Gut, ich hatte alle Texte bereits rumliegen. Dann haben wir das einfach gemacht. Und bin trotzdem sehr happy, dass es dieses Album gibt. Und die Band, mit der ich das gemacht habe, Leopardefell, diese Band, die war auch klasse.
DKB: Welches der vierzig Studioalben von Dylan ist denn Ihr Lieblingsalbum und warum?
WN: Von der klassischen Phase „Bringing It All Back Home“, „Highway 61 Revisited“ und „Blonde On Blonde“. Alles Alben aus den 60er-Jahren, alle innerhalb von zwei Jahren gemacht. Ein Doppelalbum dabei und zwei reguläre. Das war es schon. Mein lieber Mann, das war ein unfassbare Phase! Von den späteren Alben war für mich sehr wichtig „Desire“ und davor „Blood On The Tracks“. Wenn man Keith Richards fragt, was sein Lieblingsalbum von Dylan ist, dann ist das „Blood On The Tracks“.
DKB: Und was ist mit Dylans reinem Country-Album, das eine deutliche Veränderung von seinem Gesang markierte?
WN: Nashville Skyline? Als das damals rauskam, konnte ich nichts damit anfangen. Das fand ich erst später gut. Dann kam noch später „Self Portrait“, da bin ich so ein bisschen von Dylan abgekommen. Dann habe ich allerdings Zivildienst gemacht mit einem Typ, der die ganze Zeit drangeblieben ist. Und der sagte: „Nach „Self Portrait“ kam noch eine ganze Menge, was gut war. Hör‘ dir zunächst jetzt mal „Desire“ an. Und wenn dir das gefällt, hör‘ dir „Blood On The Tracks“ an. Habe ich gemacht und dann war ich wieder voll drauf. Und ab „Time out of Mind“ gibt es auch ganz tolle Sachen.
DKB: Der Dylan wurde ja 1965 auf dem Newport Folk Festival ausgebuht, als er seine Akustikgitarre gegen eine E-Gitarre austauschte und mit der Paul Butterfield Bluesband auftrat. Als BAP 1981 vom alternativen Label Eigelstein Records zu EMI wechselte, haben Sie auch Kritik einstecken müssen.
WN: … aber nicht besonders, nein.
DKB: Können Sie verstehen, was da in den Leuten vorgeht oder manche das gar als Verrat empfinden?
WN: Ja, aber doch nur, wenn man die Zusammenhänge nicht kennt. Das sind jetzt viele Fragen auf einmal. Ich beantworte jetzt mal die letzte Frage. Wir mussten damals wechseln, weil diese kleine Plattenfirma Eigelstein keinen vernünftigen Vertrieb hatten. Da gingen zwei Vertreter mit ihren Musterkoffern durch die Gegend zu den linken Buchläden und sagten: Hier ist die neue Platte von BAP. Wollt Ihr drei Stück davon?“ Die hatten keinen Vertrieb. Das war eine Katastrophe. Wir haben sehr viel gespielt, hatten viele Auftritte, kleine Auftritte. Das waren auch erfolgreiche Auftritte, nur wir konnten davon nicht leben. Das waren lächerliche Gagen und wir waren so langsam dabei, im Umkreis von Köln im eigenen Saft zu verbrutzeln. Wenn ich zum Beispiel bei einem Jugendzentrum anrief und fragte: „Hört mal, können wir noch mal bei euch spielen?“ Dann sagten die: „Na, das ist ja alles super! Aber doch nicht schon wieder!“ Also, wir mussten zwangsläufig einen größeren Vertrieb haben. Und da haben wir den Leuten von Eigelstein gesagt: „Gebt die Platte doch bei einer großen Plattenfirma in den Vertrieb.“ Und die sagten dann: „Nein, dann verdienen wir ja nichts dran.“ Also, die waren ganz einfach zu kurzsichtig. Und dann haben wir gesagt: „Leute, dann müssen wir zu einer größeren Firma wechseln. Wir verbrutzeln im eigenen Saft!“ Das war völlig verständlich.
DKB: Oft ist es doch auch so, dass eine Firma auf einen zukommt. Die mussten doch gemerkt haben, dass es so nicht läuft, oder?
WN: Gott sei Dank war unser Bassist damals so weitsichtig und sah, dass wir davon nicht leben konnten. Wir mussten aber davon leben, denn das Ganze war mittlerweile sehr, sehr arbeitsintensiv. Also mussten wir wechseln. Weil wir sonst im eigenen Saft verbrutzelt wären. Das erste Album, das wir für EMI gemacht haben, war dann „für usszeschnigge.
DKB: Sie sind ja auch ein großer Fußballfan. Vom ehemaligen Nationalspieler und Weltmeister Gerd Müller heißt es, der konnte beides, d.h. rechts und links schießen. Als Musiker können Sie auch etwas beides, sanft und hart, nämlich intime, berührende Balladen schreiben und krachende Rocksongs wie etwa „Verdamp lang her“. Als BAP-Fan steht man da manchmal zwischen „John Steinbeck und Josef Conrad, nur relativ Schach matt“ und fragt sich, was einem besser gefällt. Welches dieser beiden Genres fällt Ihnen denn leichter zu schreiben?
WN: Mittlerweile schreibe ich hauptsächlich die Musik unserer Bandmitglieder und vor allem für unseren Gitarristen. Das ist Ulrich Rode, der macht wunderbare Musikstücke. Und von unserem Keyboarder, der hervorragende Klavierballaden beiträgt. Und die fallen mir eigentlich leichter, weil da mehr Platz ist. Wenn du einen Rocker hast, dann musst du bündeln. Aber es kommt letztlich immer nur auf den entscheidenden Moment an: „Ah, diese Idee hier, geht die?“ Und dann muss man ein bisschen dranbleiben und der erste Satz, der kann schon zum zweiten Satz führen. Meistens ist das ein Satz für den Refrain. Und dann muss man gucken, wohin das mäandert. Wenn man einen Song schreibt, dann darf man nie von einer Pointe aus schreiben. Also, „Ich habe jetzt die und die Pointe, da will ich drauf zu laufen.“ Das verschließt viel zu viele Wege, so viele Möglichkeiten. Besser mal mit einem Satz anfangen und mal gucken, wo der hingeht oder was vor dem Satz war. Und dann kann es interessant werden. Es macht großen Spaß. Einen Song schreiben ist wie ein Bild malen. Wie bei den Bildern oder den Collagen, die ich anfertige. Ich fange da irgendwo an und gucke mal, wie es weitergeht. Sonst ist der Arbeitsprozess viel zu langweilig. Ich habe ja da drüben Malerei gelernt, ich konnte damals malen wie ein Fotoapparat. Aber das ist doch langweilig! Da weiß ich ja, wie das aussieht. Wo ist der Kick dabei? Ich kann das. Ja prima, aber wo ist der Reiz? Nein, es macht Spaß, wenn man sich richtig darein versenkt. Manchmal habe ich bei den großen Materialbildern bis morgens vier oder fünf dran gearbeitet habe, und draußen ging die Sonne schon wieder auf. Dieses Gefühl! Mensch, ist das geil! Ich schwitze und muss sofort in die Badewanne. Mit diesem Gefühl hat es funktioniert. Dann kann man auch gut schlafen gehen.
DKB: Und dann haben Sie 2016 etwas gemacht, was wir gar nicht erwartet hätten. Da waren Sie bei der dritten Staffel von „Sing meinen Song“ dabei. In der Sendung geht es ja darum, dass Musiker-Kollegen Innen ihre Lieder tauschen, also den Song der anderen covern. Wie war das denn?
WN: Ja, Gott sei Dank habe ich das gemacht. Das war sehr schön. Die wollten, dass ich da mitmache. Ich hatte denen allerdings gesagt, dass ich keine Lust hätte, irgendeinen Schlagersänger zu covern. Bitte lasst mich in Ruhe, ich will nicht. Die sind mir dann bis in die Türkei nachgeflogen, wo ich damals im Urlaub war, und haben gesagt: „Wir müssen noch mal miteinander reden. Wir machen das so. Wir sagen, wer sonst noch dabei sein würde und dann kannst du entscheiden, ob du dabei bist.“ Ich habe anscheinend den Schlagersänger in meiner Sendung verhindert. Es war kein Schlagersänger dabei.
DKB: Wie war das mit der Nena, die hat „Verdamp lang her“ gesungen, oder?
WN: Die hat „Du kannst zaubre“ gesungen.
DKB… Und das hat geklappt? Geht den BAP-Songs nicht etwas verloren, wenn sie auf Hochdeutsch gesungen werden?
WN: Nein, das klappt. „Verdamp lang her“ hat übrigens die Annett Louisan gesungen. Die war lustig. Wir haben da alle einen großen Spaß gehabt. Da gab es Momente, die gar nicht gefilmt wurden. Einmal ist ein Riesengewitter runtergegangen und wir haben uns alle unter ein Zeltdach gesetzt. Und dann haben wir Dylan-Songs und Bob Marley-Songs zusammengespielt. Nein, das war wirklich eine sehr schöne Geschichte.
DKB: Gibt es das Format noch immer?
WN: Ja, da spielen unser Gitarrist und die drei Bläser in der Band mit.
DKB: Ja, über die Malerei haben wir schon ein bisschen gesprochen. Das ist Ihre zweite große Leidenschaft…
WN: Man hat ja als Künstler so eine Art Gestaltungsdrang. Und der muss irgendwo hin. Da muss ich etwas mit machen. Wenn ich manchmal an einem Song arbeite, fällt mir ein, was für eine Collage ich noch nebenbei machen könnte. Ich gestalte unsere Platten-Cover, Plakate und unsere Bühne. Der Vorhang, der dahinter hängt, für den sorge ich auch. Das mache ich so, wie ich denke, dass es gut ist. Dann muss ich das niemandem erzählen, das mache ich lieber selbst.
DKB: Bei Ihrer kommenden „Zeitreise-Tour“ werden Sie 34 Konzerte geben, wenn ich richtig mitgezählt habe. Das ist doch bestimmt physisch und auch mental eine große Herausforderung. Machen Sie etwas Bestimmtes, um sich fit zu halten?
WN: Ja, aber ich muss das ganze Jahr über fit sein. Es ist so: Ich achte auf meine Ernährung. Ich mache regelmäßig Sport. Morgens eine Stunde auf dem Heimtrainer, das muss sein. Dann haben wir einen Hund, mit dem gehe ich morgens oder abends eine Stunde raus, dass man auch mal an die frische Luft kommt. Ich ernähre mich bewusst. Momentan habe ich eine Phase, wo ich überhaupt keinen Alkohol trinke. Und wenn ich irgendwann wieder Alkohol trinke, dann in Maßen. Und man kann nicht erwarten, dass ich mit 73 noch auf der Bühne herumspringe und den Berufsjugendlichen spiele. Das geht nicht, da muss man eben ein bisschen aufpassen.
DKB: Welche Musik hören Sie denn eigentlich gern?
WN: Natürlich höre ich viele meiner alten Helden gerne. Und ich verfolge immer, was die noch so tun. Ich bin sehr froh, dass die Stones mal wieder ein neues Album gemacht haben. „Hackney Diamonds“ ist sehr gelungen. Ab und zu kriege ich dann auch Tipps von meinen Töchtern, was ich mir anhören sollte.Wenn ich dazu komme, und ich komme viel zu selten dazu, weil ich dauernd arbeite. Aber ich habe ja auch meine eigene Radiosendung, die mache ich einmal im Monat auf WDR4, jeden ersten Dienstag im Monat um 21:05 Uhr. Seit 2017 mache ich das. Manchmal denke ich mir eine thematische Sendung aus. Für die Vorbereitung einer Sendung brauche ich etwa einen Arbeitstag. Das macht großen Spaß und dafür muss ich auch viel recherchieren über die Musik, die man mir teilweise empfohlen hat. Oder ich lese die Kritiken im „Rolling Stone“, den ich abonniert habe. Kritiken, von denen ich meine, dass das etwas für mich wäre. Und natürlich recherchiere ich auch die Hintergründe. Die Sendung heißt „Songpoeten“. Das ist eine richtige Sendung. Die gibt es dann später in der Mediathek.
DKB: Herr Niedecken, vielen Dank für das Gespräch und viel Erfolg für das neue Album und Ihre Tournee.