Männer zuerst?
Ob als moralisches Gedankenspiel oder als Regel in Notfallsituationen, es gilt – Kinder und Frauen zuerst. Diese Regel stellt der Film „Höhere Gewalt“ infrage. Denn als eine junge schwedische Familie während ihres Skiurlaubs in den französischen Alpen beim Mittagessen auf der Terrasse des Restaurants sitzt, kommt es zur Katastrophe: Eine Lawine rast mit voller Wucht auf sie zu. Gerade hatte der Vater Tomas noch beruhigend auf seine Kinder eingeredet und von kontrolliertem Abgehen einer Lawine gesprochen, da sieht es so aus, als ob es keine Kontrolle mehr gäbe. Mutter Ebba greift instinktiv nach ihren Kindern. Und was macht der Vater? Er nimmt sein Handy und ergreift die Flucht.
Wie entsetzlich – denke ich. Und als das große Unglück ausgeblieben ist, atme ich erleichtert auf – wohl spürend, dass da neben dem ersten Schock noch etwas anderes zurückbleibt. Das Bild des Mannes als Beschützer hat stark gelitten, auch bei der Ehefrau Ebba und den beiden Kindern. Zuvor konnte man die Familie noch friedlich zusammensehen, etwa im Familienbett oder auf dem Weg zum Skilift. Doch nun sind die Kinder irritiert und die Ehefrau desillusioniert.
Fünf Tage lang bietet uns der Film Einblicke in eine schwedische Mittelstandsfamilie, die in einem französischen Skigebiet kurz verschnaufen will, um wieder Kraft für den Alltag zu gewinnen. Selbstbewusste Kinder, die den Eltern auch die Meinung sagen und völlig gleichberechtigt wirken. Haben die Eltern ein Problem, verschwinden sie auf dem Flur, um miteinander zu sprechen. Ausgelöst durch die Lawinen-Scheinkatastrophe geraten einige davon an die Oberfläche. Tomas ist nicht selbstgerecht, aber seine Version seines Verhaltens ist fast schon unterbelichtet. Er blendet einfach die Tatsache aus, dass er den Ort der Beinah-Katastrophe und damit seine Familie fluchtartig verlassen hat.
Wollen Frauen das überhaupt noch?
Erst das per Handy mitgefilmte Video lässt ihn erschüttert sein Verhalten als real erleben. Nun hasst er sich und die Situation, in die er geraten ist. Nicht häufig kommen solche Ereignisse auf Familien zu, in denen Väter ihre Familie schützen müssen. Sie sind also wenig geübt darin, Beschützerrollen zu spielen. Wollen Frauen das überhaupt noch?
Der Film erzählt in ruhigen, ausdruckstarken Bildern und teilweise sehr langen Einstellungen, er lässt somit Raum für Überlegungen – schärft aber auch den Blick für Details. Er greift ein Thema auf, das einer Studie zufolge gar nicht selten ist. Geht es um das eigene Überleben, scheinen Männer sogar noch eher wegzurennen und sich in Sicherheit zu bringen als Frauen.
Der Überlebensvorteil bei Katastrophen ist ein Mythos
Zusammengefasst besagt die Studie der Universität von Uppsala, dass der Glaube, Frauen und Kinder hätten einen Überlebensvorteil bei Katastrophen, ein Mythos ist. Die Wissenschaftler des Lehrstuhls für Wirtschaft analysierten Daten über 18 maritime Katastrophen im Verlauf von drei Jahrhunderten, die das Schicksal von mehr als 15.000 Individuen aus über 30 Ländern abdeckt. Die Ergebnisse zeichnen ein neues Bild: Frauen haben eine deutlich geringere Chance zu überleben, verglichen mit Männern. Kapitäne und Besatzungen überleben zu einem wesentlich höheren Prozentsatz als Passagiere. Unter dem Strich zeigen die Ergebnisse, dass auf das Verhalten in „Leben oder Tod“-Situationen vor allem der Ausdruck „Jeder ist sich selbst der Nächste“ zutrifft.
Unter anderem hat das in dem Regiesseur RUBEN ÖSTLUND den Wunsch geweckt, die gängige Vorstellung des Mannes als Beschützer seiner Frau und Familie neu zu beleuchten und infrage zu stellen. Ein sehr interessanter und sehenswerter Film. Paare, die sich den Film zusammen ansehen, werden danach wahrscheinlich über ihre eigene Beziehung reden und sich Fragen stellen.
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Höhere Gewalt – ab 20. November im Kino