Absurder Alltag und bürokratischer Wahnsinn im Iran: Ein frischgebackener Vater, der auf dem Standesamt seinen neu geborenen Sohn mit dem Namen „David“ anmelden will, weil dies der Name des Lieblingsautors seiner Frau ist. Der Beamte belehrt ihn, dass dies unmöglich sei, weil der Name westlich ist. Auftakt zu einer frustrierenden Diskussion, die sich im Kreise dreht und zu nichts führt.
Ein junges Mädchen, das in das Büro der Schulleiterin gerufen wird und sich rechtfertigen muss, weil der halb blinde Hausmeister sie mit einem Jungen auf einem Motorrad gesehen hat.
Ein Mann bei der Anhörung seines Antrags auf Verlängerung seines Führerscheins. Mickey-Mouse-T-Shirt und Tattoos des Bittstellers erwecken das Missfallen des Behördenvertreters, der ihn zwingt, sich vollständig zu entkleiden.
Ein zunehmend genervter Regisseur, der verzweifelt bei der Kulturbehörde für die Drehgenehmigung für seinen Film kämpft. Das Drehbuch erscheint dem Vertreter der staatlichen Autorität in Teilen als unvereinbar mit den religiösen und sittlichen Vorschriften des iranischen Gottesstaates, sodass der Filmemacher die beanstandeten Szenen aus seinem Skript einer nach der anderen herausreißen muss, um die absurden ideologischen Auflagen der Zensur zu erfüllen.
Das sind vier von insgesamten neun kleinen Episoden aus dem Film „IRDISCHE VERSE„, der heute in die deutschen Kinos kommt. Nicht Folter und blutiger Terror des brutalen Gottesstaates stehen im Fokus, sondern die vielen kleinen repressiven Mechanismen, mit denen die Menschen in ihrem Alltag schikaniert und zermürbt werden. Gemacht haben den Film die aufstrebenden, regimekritischen iranischen Regisseure Alireza Khatami und Ali Asgari, die die Willkür der iranischen Theokratie bereits mehrfach am eigenen Leib zu spüren bekommen haben. So erhielt Asgari im September 2023 in seiner Heimat Berufsverbot und durfte das Land nicht verlassen.
Gedreht wurden die neun Episoden im kastenförmigen 4:3 Format, was die Enge und Klaustrophobie des Alltags im Iran unterstreicht. Die Vertreter der staatlichen Autorität haben im Film kein Gesicht, man hört nur ihre Stimmen, was die Ohnmacht, die wir mit den Opfern der Willkür empfinden, verstärkt. Eingerahmt werden die Episoden von einer jeweils im Breitwand gedrehten Eingangs- und Schlusssequenz.
Der Prolog zeigt im Zeitraffer, unterlegt mit einem kakofonischen Sounddesign, das im Morgengrauen erwachende Teheran. Im Epilog sieht man einen stummen, in gebeugter Haltung in einem Büro sitzenden alten Mann. Die Geräusche aus der Eingangssequenz schwellen beunruhigend an, während im Hintergrund die Stadt in Flammen aufgeht. Der „100-jährige“ Mann steht vermutlich für die innere Wut der normalen Menschen, die von dem fanatischen religiösen Regime unterdrückt werden.
Im Herbst 2022 gab es im Iran nach dem Tod einer jungen kurdischen Frau wochenlange Massenproteste. Die Sittenwächter hatten sie wegen eines angeblich schlechtsitzenden Kopftuches festgenommen und nach Feststellung einer UN-Expertenkommission umgebracht. Seitdem haben immer mehr Iranerinnen die strengen Kleidungsvorschriften ignoriert. Im Iran liegt ein politischer Wandel in der Luft und dieser eindrucksvolle aktuelle Film zeigt uns, warum. Der Film „Irdische Verse“ ist sehr sehenswert und läuft ab heute in ausgewählten Kinos.