Anlässlich des internationalen World Hearing Day der Weltgesundheitsorganisation (WHO) am 3. März 2020 präsentiert die Deutsche Grammophon ein außergewöhnliches Videoprojekt mit der tauben Tänzerin Kassandra Wedel, die den besonderen Geist Beethovens mit ihren ganz eigenen Mitteln erfahrbar werden lässt.
Wo das bloße Geräusch endet, beginnt der Klang: eine faszinierende Symbiose aus Melodie, Harmonik und Rhythmus – Musik. Tanz ist bewegte Musik, gefühlvoll und harmonisch umgesetzt, ein Rausch, der allein dem Körper und seiner Ausdruckskraft gehört.
Aber was geschieht, wenn Melodik und Harmonik in der Stille verschwinden? Was überdauert? Das Beethoven-Jahr 2020, in dem der 250. Geburtstag des früh ertaubten Komponisten gefeiert wird, zelebriert das Gelblabel international mit verschiedenen Projekten, die sich dem Tonschöpfer auf ganz unterschiedliche Weise nähern. »Play on, play against all odds« steht stets als Motto darüber, ist Beethovens Biografie und Werk doch Sinnbild für unermüdliche Gestaltungskraft und unbedingten Überlebenswillen, allen Widrigkeiten und Einschränkungen zum Trotz.
In dem eindringlichen Tanzvideo vermittelt Kassandra Wedel einen spannend anderen, dramatischen und intuitiv packenden, Zugang zu einem der Schlüsselwerke Beethovens, dem ersten Satz seiner Fünften Symphonie op. 67 in der legendären Einspielung der Berliner Philharmoniker unter Herbert von Karajan aus dem Jahr 1977. Sie wird zur Klanglandschaft für eine expressive und unmittelbare Tanzchoreografie, in der Wedel die archaische Kraft und pochende Intensität der Musik mit sprechender Mimik und emotionaler Gestik ausdeutet und die Schwingungen jenseits der vordergründigen musikalischen Struktur freilegt.
»Mich inspiriert der Schmerz«, sagt Wedel. »Ich möchte herausfinden, warum er da ist und woher er kommt.« Dabei sei es für sie inspirierend, ihre eigenen Grenzen wahrzunehmen und zu sehen, wie weit sie gehen könne. »Das Spannende an diesem Projekt ist für mich, dass Beethoven zwar ertaubt ist im Laufe seiner Karriere, aber trotzdem noch weiter Musik gemacht hat. Ich kann mich mit ihm identifizieren, weil es mir ähnlich ergangen ist. Ich tanze trotzdem weiter.«
Die 35-Jährige arbeitet als Tänzerin, Tanzlehrerin, Choreografin und Schauspielerin und ist unter anderem Hip-Hop-Tanzweltmeisterin. Im Alter von drei Jahren verlor sie ihr Gehör bei einem Autounfall. Dies hat sie jedoch nie daran gehindert zu tanzen. Vielmehr sind das innere Hören und Erspüren für die Künstlerin zu einer Bereicherung geworden, die sie weitergeben möchte.
Sie sagt: »Ich kann in meinem Tanz und in meinen Choreografien auch viel Poesie einbinden – das können die Hörenden oft nicht so. Deswegen finde ich es gut, wenn man sich auf Augenhöhe begegnet und nicht nur den Mangel sieht. Stattdessen kommt eine neue Dimension dazu, die auch hörende Menschen bereichert.«
In ihrem Tanz setzt Wedel die Vibrationen der Musik in Bewegungen um. Dafür nimmt sie den Grundpuls auf und lässt den Rhythmus auf ihren Körper übergehen. Doch ihre Wahrnehmung der Musik geht weit darüber hinaus. »Für mich geschieht Musik nicht nur durch das Hören oder das Fühlen des Basses oder der Vibration«, so Wedel. »Musik entsteht auch in mir drin. Es gibt eine Melodie in mir und ich kann die Musik auch sehen.«
Beethoven selbst war bereits mit Ende 20 schwerhörig und die letzten Jahre seines Lebens vollständig taub. Seinen schrittweisen Hörverlust hat der Komponist als dramatisch erlebt – erschütternd dokumentiert in seinem Heiligenstädter Testament, das er mit gerade einmal 32 Jahren schrieb.
Dabei litt er besonders unter der folgenden sozialen Isolation. »… seit zwei Jahren fast meide ich alle Gesellschaften, weils mir nun nicht möglich ist, den Leuten zu sagen, ich bin taub. Hätte ich irgendein anderes Fach so gings noch eher, aber in meinem Fach ist das ein schrecklicher Zustand …«,
so schrieb Beethoven in einem Brief an seinen Freund Franz Gerhard Wegeler. Doch obwohl Beethoven nicht nur sein Gehör, sondern zeitweise auch den Lebensmut verlor, fand er Trost und Sinn in der Musik und schuf, vollkommen ertaubt, hochkomplexe Meisterwerke wie die Missa solemnis op. 123 oder seine Neunte Symphonie op. 125.
»Ich glaube, dass die Ertaubung für Beethoven innerlich wie praktisch ein Kampf war und er dadurch auch gelernt hat, von innen zu hören«, sagt Kassandra Wedel. Das Besondere in Beethovens Musik seien für sie die vielen verschiedenen Gefühle, die darin spürbar sind: »All die verschiedenen Emotionsebenen, Liebe, Wut oder Trauer. Ich glaube, das ist der Grund, warum so viele Leute die Musik von Beethoven lieben.«
Zum „World Hearing Day“ wird Wedels persönliche Ausdeutung dieser emotionalen Facetten in Beethovens Fünfter Symphonie nun via Streaming einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Dabei wird die universelle Kraft spürbar, die Beethovens Musik innewohnt und die in ihrer tiefen Menschlichkeit berührt – allen Widrigkeiten und Einschränkungen zum Trotz.
Play and dance on, play and dance against all odds!
Berührend und schön ist dieses Video. Die tänzerischen Bewegungen treffen und interpretieren jeden Ton auf individuelle Weise und genau auf den Punkt. Eine vollendete Choreografie.