ONE LIFE – ein Film von James Hawes

„Wer ein einziges Leben rettet, der rettet die ganze Welt“, lautet ein Spruch aus dem Talmud, einem der bedeutendsten Werke des Judentums. Der junge britische Bankier Nicholas Winton rettete 689 Menschenleben aus der kurz vor der Besetzung durch die Nazis stehende Tschechoslowakei. Zusammen mit zwei anderen Aktivisten organisierte Winton die Flucht der Kinder in acht „Kindertransporten“, die sie schließlich wohlbehalten nach Großbritannien brachten, und vermittelte ihnen dort Patenfamilien. Winton selbst hielt seine Geschichte 50 Jahre lang geheim, bis eine BBC-Sendung namens That’s Life sie in den späten 1980er-Jahren aufdeckte, was ihm den Ritterschlag einbrachte und die nationale Presse veranlasste, ihn als „britischen Schindler“ zu feiern. Der Film ONE LIFE von James Hawes, der ab dem 28.03.2024 in den deutschen Kinos anläuft, erzählt diese außergewöhnliche Heldengeschichte einfach und mit ans Herz gehender Direktheit.

Er beginnt in Maidenhead, einer beschaulichen englischen Kleinstadt in der Grafschaft Berkshire, wo Nicholas Winton, ein deutsch-jüdischer Emigrant, mit seiner Frau Grete (Lina Olin) ein friedliches Leben führt. Nicholas ist nach sanftem Zureden von Grete dabei, sein Arbeitszimmer auszumisten. Im Gerümpel, das sich im Laufe der Jahrzehnte angesammelt hat, entdeckt er dabei einen Lederkoffer, der Fotos und Notizen seiner selbstlosen Taten im Vorfeld des Zweiten Weltkrieges enthält. 


Der junge Nicky Winton (Johnny Flynn) fotografiert im Camp und verschafft den Kindern Papiere.
© SquareOne Entertainment

In einer Rückblende lernen wir dann den viel jüngeren Winton kennen, der sich auf eine waghalsige Mission begibt, um Hunderte von meist jüdischen Kindern aus einem Flüchtlingslager bei Prag zu befreien und damit vor dem sicheren Tod in den Konzentrationslagern der Nazis zu retten.

Bei Filmen, die ständig zwischen verschiedenen Zeitebenen hin- und her wechseln, kann es vorkommen, dass die Aufmerksamkeit des Zuschauers von der einen stärker gefesselt wird als von der anderen. Doch ONE LIFE gelingt es mühelos, beiden Erzählsträngen und den darin enthaltenen Leistungen genügend Raum zum Atmen zu geben, ohne das große Ganze aus den Augen zu verlieren.

Eltern verabschieden ihre Kinder in eine ungewisse Zukunft.
© SquareOne Entertainment

Johnny Flynn überzeugt voll und ganz in seiner Rolle als stiller, beharrlicher jüngerer Winton. Wir sehen ihn bei der Arbeit in Prag zusammen mit Warriner (Romola Garai) und Chadwick (Alex Sharp), während seine Mutter Babi (Helena Bonham Carter) in London die Operation leitet. Dazu gehörte es, Geld zu beschaffen, Regierungsstellen um Visa zu bitten, Pflegefamilien zu finden und das alles im Angesicht der Unsicherheit und Angst vor der drohenden Okkupation durch die Nazis.

Die Betrachtung der Dossiers beschwören bei Winton qualvolle Erinnerungen an die Zeit in Prag herauf. Es sind Szenen von fast unerträglicher und bedrückender Spannung, die hier dem Film gelingen. Wir sehen gespenstische Fotografien von Kindern, ihre Namen hastig auf Pappstücke gekritzelt, die ihnen um den Hals gehängt werden. Verzweifelte Eltern, denen die Kinder entrissen werden. Nazi-Soldaten, die den Zug durchkämmen, die Papiere der Kinder misstrauisch prüfen und sie jeden Augenblick ohne einen Grund zurückweisen könnten.  Acht Züge kommen einigermaßen gut durch, da ihre Retter in der Vorkriegszeit britische Staatsbürger sind. Der neunte Zug steht jedoch noch auf dem Bahnsteig in Prag, als die Nachricht vom deutschen Einmarsch eintrifft. Schwadronierende Nazi-Soldaten strömen in den Bahnhof, Angst und Schrecken stehen unmittelbar bevor. Es ist diese Tragödie, die Wintons Erinnerungen prägen und ihm das Gefühl geben, nicht genug getan zu haben.

ONE LIFE ein Film von James Hawes
Nicky Winton (Johnny Flynn) schaffte es mit seinen Kindertransporten 669 jüdische Flüchtlinge zu retten.
© SquareOne Entertainment

Johnny Flynn hat wohl die leichtere Aufgabe als junger Winton, der gegen die Zeit anrennt, um möglichst vielen Kindern zu helfen, dem Holocaust zu entkommen, bevor es zu spät ist. Aber es ist Anthony Hopkins in der Rolle des alten Winton, der den herausragenden, emotional bewegenden finalen Moment des Films liefert, wenn er 50 Jahre aufgestaute Frustration, Selbstzweifel und Bedauern über die Kinder, die er nicht retten konnte, in einer plötzlichen kathartischen Entladung in einem Studio der BBC ausdrückt.  

Manche Menschen mögen ONE LIFE als zu sentimental empfinden, doch der Film hat diese Gefühle ehrlich verdient. Man müsste schon ein Herz aus Stein haben, um nicht von dieser außergewöhnlichen Geschichte berührt zu sein. Regie führte James Hawes, der sich bislang mit Fernsehproduktionen einen Namen gemacht hat (u.a Slow Horses auf Apple TV+). Das Skript basiert auf dem Buch von Wintons Tochter Barbara „If It’s Not Impossible …: The Life of Sir Nicholas Winton“ und stammt von den Drehbuchautoren Lucinda Coxon und Nick Drake. Volker Bertelmann alias Hauschka schrieb die dezente Musik, die dem Film die passende Note verleiht. Unbedingt sehenswert.

Titelbild: Noch ahnt Nicky Winton (Anthony Hopkins) nicht, was ihn bei „That’s Life“ erwartet.
© SquareOne Entertainment

Standardbild
Hans Kaltwasser
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