Gleiche Vorlieben – gleiches Wesen?

Dating-Apps wie Tinder, Bumble oder Lovoo haben Date-willige Nutzer:innen längst erobert. Die Algorithmen analysieren, wenn auch weitgehend für uns unbekannt, zu welchem Profil wir passen könnten. Oft sind es jedoch die „Likes“ und „Dislikes“, die mit den Daten anderer Nutzer:innen verknüpft werden, auf denen die Vorschläge angepasst werden.

Doch bewusst ist uns, dass wir, ob real oder über eine App, uns von anderen angezogen fühlen, die die gleichen Interessen teilen. Diese Anziehungskraft kann jedoch auf dem Irrglauben beruhen, dass solche gemeinsamen Interessen eine tiefere und grundlegendere Ähnlichkeit widerspiegeln – wir teilen ein Wesen.

Konkret gesagt: Wir mögen jemanden, der mit uns in einer politischen Frage übereinstimmt, unsere Musikvorlieben teilt oder einfach nur über das Gleiche lacht wie wir, nicht nur wegen dieser Ähnlichkeiten, sondern weil sie auf etwas anderes hindeuten. Diese Person ist im Wesentlichen wie ich, und als solche teilt sie meine Ansichten über die Welt im Allgemeinen.

Wir alle neigen dazu, solche Denkprozesse anzustellen. Dieser psychologische Essentialismus wird speziell auf die Vorstellungen der Menschen über das Selbst und die individuelle Identität angewandt, so Charles Chu, Hauptautor der Studie und Assistenzprofessor an der Boston University Questrom School of Business. In jüngster Zeit haben Forscher sich auf die Kategorie des Selbst konzentriert und festgestellt, dass wir das Selbst ebenso essentialisieren wie andere Kategorien.

„Mich zu essentialisieren bedeutet, mich durch eine Reihe von fest verankerten und unveränderlichen Eigenschaften zu definieren, und das tun wir bis zu einem gewissen Grad alle. Wir glauben dann, dass das, was andere an uns sehen können, und die Art und Weise, wie wir uns verhalten, durch eine solche unveränderliche Essenz verursacht wird“, sagte er.

Um besser zu verstehen, wie Selbstessentialismus die Anziehungskraft zwischen Individuen steuert, führten die Forscher eine Reihe von Experimenten durch. Die Ergebnisse wurden im „Journal of Personality and Social Psychology“ veröffentlicht.

In einem Experiment wurden 954 Teilnehmer zu einem von fünf zufällig zugewiesenen sozialen Themen befragt (Abtreibung, Todesstrafe, Waffenbesitz, Tierversuche oder ärztlich assistierter Suizid). Die Hälfte der Teilnehmer bekam Daten von Personen, die mit ihrer Position übereinstimmten. Dagegen erhielt die andere Hälfte Daten, die mit ihren eigenen nicht übereinstimmten .

Alle Teilnehmer füllten dann einen Fragebogen aus, in dem sie angeben sollten, inwieweit sie glaubten, dass sie eine allgemeine Weltsicht mit der fiktiven Person teilten, inwieweit sie sich zu dieser Person hingezogen fühlten und inwieweit sie insgesamt an den Selbstessentialismus glaubten.

Die Forscher fanden heraus, dass Teilnehmer, die einen hohen Grad an Selbstessentialismus aufwiesen, sich eher zu der fiktiven Person hingezogen fühlten, die mit ihrer Position übereinstimmte. Sie gaben zudem an, eine allgemeine Wahrnehmung der Realität mit dieser Person zu teilen.

In einem weiteren Experiment wurden 449 Teilnehmer als Fans eines von zwei Künstlern eingestuft und dann mit Informationen darüber konfrontiert, ob die Verwendung des eigenen Wesens für die Wahrnehmung anderer Menschen nützlich ist oder nicht.

Diesmal wurde einem Drittel der Teilnehmer gesagt, dass essentialistisches Denken zu falschen Eindrücken von anderen führen könnte, einem Drittel wurde gesagt, dass essentialistisches Denken zu richtigen Eindrücken von anderen führen könnte, und das letzte Drittel erhielt keine Informationen.

Wie erwartet fanden die Forscher heraus, dass Teilnehmer, denen gesagt wurde, dass essentialistisches Denken zu genauen Eindrücken von anderen führen kann, mit größerer Wahrscheinlichkeit von einer Anziehung zu hypothetischen Personen mit ähnlichen Kunstvorlieben und einer gemeinsamen Realität berichteten.

Chu sagte, er sei sehr überrascht gewesen, dass etwas so Minimales wie eine gemeinsame Vorliebe für einen Künstler dazu führen würde, dass Menschen annehmen, eine andere Person würde die Welt auf die gleiche Weise sehen wie sie selbst. Selbstessentialistisches Denken könne jedoch ein zweischneidiges Schwert sein, warnte er.

„Ich denke, dass wir immer dann, wenn wir schnelle Urteile oder erste Eindrücke mit sehr wenig Informationen fällen, von selbst-essentialistischem Denken beeinflusst werden können. … Doch Menschen sind viel komplexer, als wir oft glauben, und wir sollten uns vor den ungerechtfertigten Annahmen hüten, die wir auf der Grundlage dieser Art von Denken treffen.“

Das trifft im Übrigen dann auch auf die Matches bei Tinder und anderen Dating-Apps zu.

Article: “Self-Essentialist Reasoning Underlies the Similarity-Attraction Effect,” by Charles Chu, PhD, Boston University School of Management, and Brian Lowery, PhD, Stanford University. Journal of Personality and Social Psychology, published online April 13, 2023.

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Ingrid
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