Der 5. Oktober 1886 wird für den jungen Ukrainer Boris Sidis zu einem unvergesslichen Datum. Er ist in New York angekommen, eingewandert, weil er zwei Jahre in seinem Heimatland unter den schlimmsten Bedingungen im Kerker gefangen gehalten wurde. Schließlich wird er mit gesundheitlichen Beschwerden unter der strengen Auflage entlassen, sich regelmäßig bei der zaristischen Polizei zu melden. Sein Verbrechen, er hatte unterprivilegierten Kindern und Jugendlichen Unterricht erteilt. Der intelligente und unbeugsame junge Mann will mit diesen Einschränkungen nicht länger leben, deshalb entschließt er sich, nach Amerika auszuwandern. Dort angekommen entledigte er sich erst einmal jeglichen Ballasts – weder Gepäck noch Geld will er mit sich herumtragen, sondern nur seine Freiheit genießen.
Ausgestattet mit einem brillanten Geist und großem Ehrgeiz sieht er eine äußerst erfolgreiche Zukunft vor sich und möchte nichts weniger als die Dummheit aus der Welt schaffen. Das ist ihm nicht gelungen, doch er wird Harvardabsolvent und ein berühmter Psychologe.
Als sein Sohn William James geboren wird, sieht er sich nicht nur als dessen Vater, er will an seinem Kind ein Exempel statuieren. Noch während der kleine William in Windeln in seinem Bettchen liegt, wird er vom Vater einer von ihm entwickelten Erziehungs- und Bildungsmethode unterzogen. Boris glaubt, dass sich jedes Kind zum Genie erziehen lässt, wenn es von Anfang an die richtige Förderung erhält.
Der Erfolg gibt ihm recht: William braucht keine Schule, macht mit acht Jahren seinen High-School-Abschluss und wird als „Wunderjunge von Harvard“ gefeiert. Seine genossene Förderung hat ihn zu einem Genie gemacht, doch sein emotionales und soziales Verhalten verkümmern lassen. Erst langsam lernt er, dass sein Genie einen hohen Preis hat. Er entscheidet sich gegen ein angepasstes Leben in einer Gesellschaft, die ausbeutet und profitsüchtig ist, und strebt ein unabhängiges Leben an …
Das Leben eines Genies, im biografischen Roman von Klaus Cäsar Zehrer werden die großartigen Momente, aber auch die Nöte und Probleme dieses außergewöhnlichen Menschen eindrucksvoll beschrieben. Frühkindliche Bildung ist auch heute ein wichtiges Thema, doch bei der „Sidis-Methode“ beginnt sie schon in der Wiege. Konsequent wird das kindliche Gehirn mit spezifischem, pädagogischen Material gefüttert. Tatsächlich ist es möglich, Kinder sehr früh zu bilden, doch wenn das zulasten einer emotionalen Erziehung passiert, dann wird das Leben eines Genies so traurig enden, wie das des William James Sidis. Ein detaillierter und aufschlussreicher Roman, der niemanden unberührt lässt.
Das Genie
Klaus Cäsar Zehrer
644 Seiten
978-3-257-86318 5
Verlag: Diogenes