Betrug – Roman von Zadie Smith

Zunächst begegnen Leser und Leserinnen im vielschichtigen Roman „Betrug„“ der Schriftstellerin Zadie Smith einer der wichtigsten Figuren – Eliza Touchet. 1873 befindet sie sich im Haushalt ihres Cousins William Ainsworth, der immer schon nichts anderes als Schriftsteller werden wollte. Er will Sarah heiraten, bislang sein Dienstmädchen, nun von ihm schwanger und bald seine zweite Ehefrau. Selbst seine Töchter aus erster Ehe sind älter als seine zukünftige Frau und gebildeter. Mit Eliza verbindet ihn mehr als nur eine angeheiratete Verwandtschaft. Sie war zeitweise seine Sex-Gespielin und mit ihren schwarzen Haaren, ihrer großen Gestalt zwar keine klassische Schönheit, aber reizvoll und mysteriös, wie der Cousin sie in seinem ersten Buch beschreibt.

Sie bleibt im Haushalt des Cousins, auch nachdem seine erste Frau in jungen Jahren an gebrochenem Herzen stirbt. Eliza, die mehr als Freundschaft für sie empfunden hat, trauert lange um sie. Sie wird eine strenge Beobachterin, insbesondere der Londoner Literaturszene. Diese Beobachtungs- und schnelle Auffassungsgabe bekommt Futter, als sie mit der zweiten Mrs. Ainsworth in den Genuss kommt, die Gerichtsverhandlungen über den Tichborne-Fall besuchen zu können. Ein wahres Spektakel, das die Besucher in zwei Lager spaltet, ebenso wie Eliza und Sarah: Die erstere glaubt nicht, dass der ungehobelte Mann, der seit zehn Jahren verschollene Sohn der reichen Lady Tichborne ist, der zu sein er behauptet; Sarah jedoch spürt mit jeder Faser ihres Körpers, dass er es sein muss.

Eliza fühlt sich zu dem Hauptzeugen Andrew Bogle, einem ehemaligen Sklaven aus Jamaika, hingezogen. Und obwohl der Richter und die Geschworenen ihr Urteil abgegeben haben, kommen Eliza und Bogle ins Gespräch. Er erzählt seine Geschichte. Und anders als im Roman Ainsworths über Jamaika, wo lange Savannen mit Kakaobaumhainen gezeichnet werden, hört sie von ihm andere Geschichten. Eliza wächst in die Rolle einer Chronistin hinein, die erkennbare Veränderungen in der englischen Gesellschaft bis in die 1870er-Jahre hinein wahrnimmt, auch wenn sie selbst in einer zwiespältigen Lage steckt – einerseits gehört sie zum Establishment und andererseits nicht.

Zadie Smith holt mit ihrem Roman Betrug die Zeit der Kolonialherrschaft und das schreckliche Erbe der Sklaverei Großbritanniens in die heutige Zeit zurück – kein abgenutzter Stoff für einen Roman, sondern historische Wahrheiten, die sie mit dem Tichborne-Fall verknüpft. Gleichzeitig bietet ihr Roman eine literarische Erkundungstour. Denn Leser*innen treffen auf Charles Dickens und andere Autoren und erfahren, wie sie sich ihre Figuren aneignen, Inspiration finden, Wahrheit und Fiktion zu ihren Gunsten auspendeln.

Mit ihrer intelligenten Schreibweise, den tiefsinnigen Dialogen und ihrem feinen Gespür für wichtige Themen ist Zadie Smith auch dieses Mal ein wichtiger und wunderbarer Roman gelungen. „Betrug“ ist ein wahrer literarischer Lesegenuss.

Betrug – Roman von Zadie Smith

Übersetzt von: Tanja Handels
528 Seiten
ISBN: 978-3-462-00544-8
Verlag: Kiepenheuer & Witsch

Standardbild
Ingrid
Kunst und Kultur, Musik und Bücher, ohne sie ist ein Leben denkbar, aber für mich sinnlos. Darum habe ich diesen Blog ins Leben gerufen. Es macht viel Spaß, ihn zu gestalten - ich hoffe, den Usern, ihn zu lesen. Nicht alles, was gedruckt wird, muss gelesen, nicht jedes Album gehört werden. Was die User hier finden, gefällt mir und den Gastautoren, die ab und zu Lust haben, etwas zu schreiben.
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