ALL MY LOVING von Edward Berger – Filmtipp

Mit TV-Serien wie “Deutschland 83“ und Filmen wie „Jack“ hat der aufstrebende Regisseur Edward Berger in Deutschland viel Beachtung gefunden. Auch auf internationalem Parkett machte sich der gebürtige Wolfsburger mit Produktionen wie den Miniserien „Patrick Melrose“ und „The Terror“ `bereits einen Namen.

Bergers neuer Film ALL MY LOVING ist ein intensives Familiendrama, das die Geschichte von drei Geschwistern erzählt. Nur auf den ersten Blick scheint zunächst das Leben der drei in Ordnung.

Stefan (Lars Eidinger) ist Pilot, fährt einen Porsche und hat ein großes Apartment. Des nachts streift er in seiner Pilotenuniform durch die Bars, um Frauen für einen One-Night-Stand aufzugabeln. Doch Stefan hat Probleme. Seit drei Monaten ist er wegen eines massiven Gehörverlustes krankgeschrieben und soll auf Anraten seines Arztes umschulen. Zudem möchte seine halbwüchsige Tochter Vicky (Matilda Berger), die aus einer früheren Beziehung stammt, nicht mehr bei ihrer Mutter leben, sondern bei ihm einziehen, was den Hedonisten zunächst wenig begeistert. Als er versucht, den beschützenden Vater zu spielen, weist sie ihn brüsk in seine Schranken. Und auch seine Uniform, die er bei seinen nächtlichen Streifzügen trägt, scheint allmählich ihren Charme bei dem weiblichen Geschlecht zu verlieren, wie er bei einer Zurückweisung schmerzhaft erleben muss.


Stefan Hoffmann (Lars Eidinger) 
© Jens Harant / Port au Prince Pictures

Julia (Nele Mueller-Stöfen) und ihr Ehemann Christian (Godehard Giese) wollen für ein romantisches Wochenende nach Turin, um frischen Wind in ihre festgefahrene Beziehung zu bringen. Doch am Urlaubsort kümmert sich Julia dann mehr um das Wohlergehen eines angefahrenen Hundes als um Christian. Die Verletzungen des Tiers erwiesen sich dabei weit weniger wichtig als deren symbolisches Surrogat, das eine schmerzliche Lücke in Julias Leben füllt, die erneut bei einem gemeinsamen Essen mit Bekannten aufbricht und zu einem Eklat führt.


Julia (Nele Mueller-Stöfen) mit ihrem Mann Christian (Godehard Giese) und Straßenhund Nero in Turin
© Jens Harant / Port au Prince Pictures

Tobias, der Jüngste, wiederum ist mit einer erfolgreichen Geschäftsfrau verheiratet und kümmert sich um seine drei Kinder. Außerdem versucht der Hausmann und Dauerstudent seine vor Jahren begonnene Diplomarbeit endlich abzuschließen.  Auf Wunsch seiner älteren beiden Geschwister fährt er zu den Eltern, um nach dem kranken Vater zu sehen, der sich hartnäckig weigert, einen Arzt aufzusuchen. Bei seinen Eltern angekommen, stellt er fest, dass diese nicht mehr allein leben können, was ihn vor das Dilemma stellt, ob er weiterhin die Rolle des Kümmerers spielen soll, der seine eigenen Bedürfnisse stets hintenanstellt. 


Tobias Hoffmann (Hans Löw) besucht seine Eltern
© Jens Harant / Port au Prince Pictures

ALL MY LOVING erzählt über die Dinge, die einen in der Lebensmitte beschäftigen. Im Zentrum stehen die drei Geschwister Stefan, Julia und Tobias, die die Rollen, die ihnen die Familie und das Leben zugewiesen haben, aufbrechen müssen, wenn sie die zweite Hälfte ihres Lebens meistern wollen. 

Anders als bei früheren Projekten ist ALL MY LOVING ein klar strukturierter Episodenfilm. In einem Prolog werden die drei Geschwister eingeführt. Stefan, Julia und Tobias treffen sich in einem Restaurant, um einige Dinge während der Abwesenheit von Julia zu regeln. Den anschließenden drei betitelten Hauptteilen, die die Entwicklung der Hauptcharaktere porträtieren, folgt eine kurze Episode, in der wir die Geschwister wieder zusammen sehen.

Was ALL MY LOVING vor allem auszeichnet, ist der Ton und die mitfühlende Herangehensweise, mit dem sich der Film seinen Protagonisten nähert.  Bergers Erzählstil ist elegant, subtil und ohne jegliche moralische Beurteilung oder gar Verachtung für seine Charaktere. Diese spielen ihre Emotionen bis auf eine Ausnahme herunter, um dem Zuschauer einen unverstellten Blick auf ihre zwischenmenschlichen Nöte und den wachsenden Sinnverlust in ihrem Leben zu ermöglichen.

Dass dies mit großer Glaubwürdigkeit gelingt, ist vor allem den umwerfenden Hauptdarstellern Lars Eidinger, Hans Löw und Nele Mueller-Stöfen geschuldet, die auch an dem Buch mitgearbeitet hat.

Ein Interview mit Nele Mueller-Stöfen und Edward Berger gibt es hier

Fotos: © Jens Harant / Port au Prince Pictures

Standardbild
Hans Kaltwasser
Artikel: 432

Schreibe einen Kommentar

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.