Der rote Faden im neuen Roman von Jonathan Franzen bildet die Figur der Purity Tyler. Im Kindergarten nannten die Kinder sie Pip, weil Purity so schwer auszusprechen war. Pip macht aus ihrem wirklichen Namen ein Geheimnis – ein Name, der Reinheit bedeutet. Wie sollte sie ihn nicht verheimlichen? Dass Pip aus ihrem Studentendarlehen noch Schulden in Höhe von $130.000 hat und sie noch immer nicht weiß, wer ihr Vater ist, macht ihr sehr zu schaffen. Das ist das Geheimnis ihrer Mutter, die auch ihre eigene Identität verborgen hält, selbst Pip gegenüber. Kann ein Mensch damit leben? Glücklich und zufrieden sein? Pip könnte es vielleicht, wenn sie die Schuldenlast nicht als so drückend empfinden würde. Deshalb erhofft sie sich Hilfe von ihrem Vater. Ihr Job bei einer Firma, die Verbraucher für erneuerbare Energie gewinnen will, wirft nicht genug Geld ab, um ihre Schulden schnell zurück zahlen zu können.
Die Möglichkeit, den Vater ausfindig zu machen, bekommt Pip unerwartet durch ein Praktikum beim „Sunlight Project“, das von Andreas Wolf gegründet in Bolivien schon zu weltweitem Ruhm gelangt ist: Der Whistleblower hat seine Kindheit und Jugend in der DDR verbracht und will nun geheime und schmutzige Details von Regierungsapparaten, Konzernen und Organisationen ans Licht bringen. Mit Annagret, die zeitweilig in Pips WG unterkommen ist, verbindet Andreas ein dunkles Geheimnis. Annagret vermittelt zwischen ihm und Pip, die schließlich das Angebot annimmt und nach Bolivien reist.
Nicht wirklich interessiert an diesem Praktikum ist nicht nur Pip, sondern auch Andreas, der ganz andere Pläne hat: Er will über Pip an Informationen über den amerikanischen Journalisten Tom Aberant kommen und Pip mit den ausgefeilten Suchwerkzeugen des Unternehmens ihren Vater finden. Geschickt verknüpft Franzen die existentiellen Bedürfnisse zweier Menschen miteinander, wobei eine der Personen eine intelligente, unerfahrene und reine junge Frau ist und die andere ein Mann mit dunkler Vergangenheit, der seine Hände beschmutzt hat, damals in seiner Zeit als Jugendhelfer in der DDR.
Andreas Ziele scheinen aufzugehen, zwischenzeitlich hat der Leser, die Leserin Einblicke in die merkwürdige, für Freud sicher alarmierende Umstände seiner Kindheit und Mutterbeziehung erhalten. Mutter zu sein und dabei eigene exzentrisch und egoistische Ziele zu verfolgen, lassen sich nur schlecht verbinden, ob in der DDR oder anderswo, was auch an der Beziehung zwischen Pip und ihrer Mutter deutlich wird, die in Santa Cruz aufgewachsen ist. Nachdem sie nun weiß, wer ihr Vater ist, muss sie ihre Mutter davon in Kenntnis setzen und damit umgehen, dass diese eigentlich steinreich ist.
Pips uneigennützige Einstellung zum Geld, sie braucht nur so viel, wie ihre Schuldenlast hoch ist, hat sich mit dem Wissen, dass ihre Mutter Milliardärin ist, nicht geändert. Es war ja gerade ihre Mutter, die Pip eine solche Einstellung zu Geld und Besitz eingeimpft hat.
Pip hat jedoch gelernt, dass es eigentlich um Macht geht, die Geld ja verschafft: Macht über Menschen, Macht über das Internet, Macht über Waffen …
Purity oder Reinheit, am Ende stellt sich die Frage, kann man in einer Welt, wo es einerseits bittere Armut, Insolvenzen und erdrückende Schulden gibt, andererseits korrupte Unternehmen ein Vermögen anhäufen, die mindestens zum Teil auf dunkle Machenschaften von Institutionen zurückzuführen und nicht kontrollierbar sind – selbst nicht durch das Internet, welches ebenso zur Quelle und Instrument krimineller Aktivtäten geworden und dazu immer besser einsetzbar ist – seine Reinheit (Purity heißt der Roman in der amerikanischen Ausgabe) oder Unschuld behalten, oder ist das ein Privileg der Unterprivilegierten?
Jonathan Franzen ist ein Meister der Erzählung, mit scharfem und ironischem Blick schaut er auf ein halbes Jahrhundert und schreibt einen sehr vielschichtigen, fesselnden Roman, der in Oakland, Ostberlin und Bolivien spielt. Unbedingt lesenswert!
Unschuld – Jonathan Franzen
Verlag: Rowohlt
Erscheinungstermin: 04.09.2015
832 Seiten
ISBN: 978-3-498-02137-5
übersetzt von: Bettina Abarbanell; Eike Schönfeld
http://us.macmillan.com/author/jonathanfranzen
© Beowulf Sheehan