Antonio Damasio – Im Anfang war das Gefühl

Das Zauberwort lautet Homöostase – alle Lebewesen streben nach einem Gleichgewicht. Zumindest seit dem Zeitalter der Aufklärung aber wissen wir, nicht Gefühle sind es, die uns von anderen Spezies abheben, sondern unser Verstand und die Tatsache, dass wir vernunftbegabt sind. Und den Sitz unseres Verstandes machen wir fest in unserem Gehirn, obwohl es sehr viel komplizierter ist.

Nun hat ein Experte für das Gehirn und zentrale Nervensystem, der Neurowissenschaftler Antonio Damasio, sich an die Frage gewagt, was die Menschwerdung und die Entwicklung des Menschen zu einem Kulturwesen vorangetrieben hat. Wie ist all das entstanden, was wir Kultur nennen?

Homöostase durchdringt alle Lebewesen, selbst Bakterien verfügen über die Fähigkeit, andere Bakterien zu vernichten, wenn sie die eigene Weiterentwicklung behindern, um so ein Gleichgewicht einzuhalten, das dem biologischen System guttut. Auch wenn dieses Verhalten scheinbar wenig mit Menschlichem zu tun hat, so gibt es gewiss Ähnlichkeiten. Diese Vorgehensweise sichert das Überleben, sie gehört zur Evolution, und die Langlebigkeit dieser Einzeller ist bekannt.

Der Autor schreitet systematisch von den Einzellern zu den differenzierteren Lebewesen und bis hin zum Menschen fort. Deren Triebkraft ist es ebenfalls, das genetische Überleben zu sichern. Gefühle wie Schmerzen und sein Gegenspieler Wohlbefinden sind grundsätzliche Emotionen, die in einem Gleichgewicht gehalten werden müssen. Eine relevante Triebkraft, die zu entscheidenden Veränderungen führte: Der Menschen hat das Feuer nutzbar gemacht und damit den Verzehr von Fleisch ermöglicht. Das Gehirn des Homo sapiens wurde durch Proteine und Nährstoffe größer und effektiver, Sprache entwickelte sich und Emotionen wie Schmerz, Angst und Wohlbefinden, die bisher als biologisches Korrelat gespürt wurden, werden nun von einem Selbst über Sprache bewusst und für die kulturelle Weiterentwicklung eingesetzt. Der Mensch bildet auf dieser Stufe kreative Intelligenz aus.

Kulturtechniken, wie die Medizin, die den Schmerz bekämpfen und operative und präventive Methoden einschließen, um den Fortbestand der Spezies Mensch zu gewährleisten, sind entsprechende Beispiele.

Kunst und Literatur

Aber warum hat die Wirkung der Homöostase Musik hervorgebracht? Literatur und Kunst? Musik gehört zu den ältesten Kulturtechniken und weist einen eigenen Stellenwert auf, da ihre Wirkung auch physiologisch nachgewiesen ist. Sie kann die Gesundwerdung beeinflussen und so zu einem Gleichgewicht des Körpersystems führen. Dass sie Emotionen hervorruft, ist uns allen bewusst.
Was Antonio Damasio letztlich mit der Fülle der Darstellung und den im Detail herausgearbeiteten Beispielen deutlich machen will: Die Entstehung von Kultur setzt ein bewusstes Selbst und ein soziales und empathisches Verhalten von Gruppen voraus.

„Ich fühle, also bin ich“ und „Ich denke, also bin ich“ – diese beiden zunächst widersprechenden Aussagen sind zwei wichtige Positionen oder Waagschalen, die in einem ausgewogenen Verhältnis zueinanderstehen müssen. War im Anfang das Gefühl, das die Menschengeschichte sich weiterentwickeln ließ, so ist es der Verstand, der die Gefühle in kulturelle Bahnen gelenkt hat. Gruppen und Gesellschaften als analoge Systeme zu unserem Organismus zu verstehen, ist denkbar, wenn „ein groß angelegtes, kluges Austarieren von Affekt und Vernunft“ (S. 231) existiert. Dann können auch Probleme, die unsere kulturellen Gesellschaften betreffen, homöostatisch gelöst werden.

Es ist ein sehr anspruchsvolles wissenschaftliches Thema, das der Autor in seinem Buch zum theoretischen Modell einer biologisch motivierten Triebfeder der Kulturentwicklung zusammengefasst hat. Wenn wir über uns nachdenken, müssen wir immer die schwierige Position der Metaebene einnehmen – wir sind Objekt und Subjekt zugleich. Dass ein theoretisches Modell nicht alle Fragen bis ins Kleinste beantworten kann, ist selbstverständlich. Der Autor hat ein faszinierendes und logisch ineinandergreifendes Denkmodell mit einer zwingenden biologischen Basis geschaffen, das einen erhellenden Blick auf unsere Kultur wirft und tatsächlich auch zukünftige Fragen wie Künstliche Intelligenzen und Unsterblichkeit erklären kann.

Für Menschen, die gerne nachdenken und kluge, anspruchsvolle Bücher lesen, ist diese Lektüre inspirierend und wertvoll.

Kurzvita
Antonio Damasio, geboren 1944, ist Professor für Neurowissenschaften, Neurologie und Psychologie an der University of Southern California und Direktor des dortigen Brain and Creativity Institute. Für seine Arbeit wurde er über die Jahre mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Damasio ist Fellow der American Academy of Arts and Sciences, Mitglied der National Academy of Sciences sowie der Bayerischen Akademie der Wissenschaften. Seine Bücher, darunter „Descartes‘ Irrtum“ und „Ich fühle, also bin ich“, sind internationale Bestseller und wurden in über 30 Sprachen übersetzt. Für „Selbst ist der Mensch“ wurde er 2011 mit der Corine ausgezeichnet.

Im Anfang war das Gefühl
Antonio Damasio

Der biologische Ursprung menschlicher Kultur

Aus dem Englischen von Sebastian Vogel
Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 320 Seiten
ISBN: 978-3-8275-0045-8

Verlag: Siedler

Standardbild
Ingrid
Kunst und Kultur, Musik und Bücher, ohne sie ist ein Leben denkbar, aber für mich sinnlos. Darum habe ich diesen Blog ins Leben gerufen. Es macht viel Spaß, ihn zu gestalten - ich hoffe, den Usern, ihn zu lesen. Nicht alles, was gedruckt wird, muss gelesen, nicht jedes Album gehört werden. Was die User hier finden, gefällt mir und den Gastautoren, die ab und zu Lust haben, etwas zu schreiben.
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