Jazz at Berlin Philharmonic II: Norwegian Woods

Eine Bluesgitarre führt die Melodie ein, verhalten, elegisch, aber doch verspielt und energiegeladen; eine klare Frauenstimme übernimmt, deren Kraft durch die eigentümliche Ruhe des Gesangs noch potenziert wird; ein Klavier versammelt das Thema noch einmal, bevor es von allen plus einem dazu stoßenden Trio durch eine mächtige dynamische Schleife geführt wird, bis es am Schluss fast ins Nichts ausklingt.

„Ingen Vinner Frem Til Den Evige Ro“ heißt das alte norwegische Kirchenlied, das Knut Reiersrud, Solveig Slettahjell, Bugge Wesseltoft, Morten Qvenild und sein Trio In The Country am 11. März 2014 im ausverkauften Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie so faszinierend in eine moderne nordische Hymne verwandelten.

Zugleich ist es einer von vielen magischen Momenten, welche die 2012 ins Leben gerufene und von Siggi Loch kuratierte Reihe „Jazz at Berlin Philharmonic“ so sicher auslöst.

Der Mitschnitt veranschaulicht nicht nur beim eingangs beschriebenen Einstieg, wie unter einem Brennglas, auf welche Weise ein Land mit gerade einmal fünf Millionen Einwohnern zum Epizentrum des europäischen Jazz werden sowie über einer der spannendsten Jazzszenen der Welt verfügen kann. Und das weit abseits der alten Zentren des Jazz. Zum einen liegt es an der Besinnung auf die eigenen Wurzeln, also auf die norwegische Volksmusik und Klassik von Johann Nesenus bis Edvard Grieg. Anfangs gar nicht einmal freiwillig – das Land der Fjorde lag einfach zu weit ab von den Tour-Routen amerikanischer Jazzer – half sie, ein eigenes Vokabular zu entwickeln, den typischen „nordic sound“, wie ihn Jan Garbarek und andere Anfang der Siebziger populär machten und wie er noch heute quasi zur DNA des norwegischen Jazz gehört.
Der zweite Schlüssel des Erfolgs ist eine nahezu bedingungslose Aufgeschlossenheit für Einflüsse aller Art: In der überschaubaren norwegischen Musikszene arbeiten Jazzer ohne Scheu mit klassischen Musikern und Kollegen von Pop und Rock zusammen, was auch beim „Norwegian Woods“-Stelldichein mit bezwingenden Ergebnissen zu bewundern war.

[su_youtube url=“http://youtu.be/IEJqvmq9ACw“]

Natürlichkeit und lyrische Sammlung einerseits, kraftvolle Eruptionen und kunstvoller Ausdruck andererseits zeichnen die Stimme des musikalischen Fixpunktes des Abends aus, jene von Solveig Slettahjell. All das und mehr setzt die Erfinderin der gesanglichen Entschleunigung und Verwesentlichung bei ihrer Version von Tom Waits „Take It With Me“ ein. Unterstützt wird sie dabei von ihrem langjährigen Partner vom Slettahjells Slow Motion Quintet, Morton Qvenild. Der geniale Universalist des jungen norwegischen Jazz hat von Pop bis Metal schon alles ausprobiert. Seit 2003 aber spielt sein Trio In The Country mit Drummer Pål Hausken und dem Bassisten Roger Arntzen unangefochten die Hauptrolle. Die hier erprobten Gestaltungsprinzipien – Soundscapes wachsen zu fein differenzierten Dialogen, mächtige Klangdome münden in pastellenen Kammerjazz oder elektronisch verzierte Hörbilder – kommen bei „Norwegian Woods“ insbesondere bei „Can I Come Home Now“ zur Geltung.

Der soeben 50 gewordene Pianist Bugge Wesseltoft, einer der Wegbereiter der jungen norwegischen Jazz-Generation, repräsentiert die wichtigsten beiden Stränge des modernen norwegischen Jazz. Beides datiert auf das Jahr 1997: Einerseits brachte Wesseltoft mit „It’s Snowing On My Piano“ seine kontemplative Seite und damit den elegischen norwegischen Jazz auf einer radikal reduzierten, zeitlosen Solo-Piano-Weihnachtsplatte (bis heute mit über 120.000 Einheiten das meistverkaufte ACT-Album überhaupt) zur Vollendung. Gleichzeitig wandte er sich mit
„New Conception of Jazz“ der Elektronik zu, mit dem wegweisenden neuen Ansatz, aktuelle Pop-Elemente von Deep House, Ambient Music, Drum’n’Bass, Big Beat bis zu Soul und Funk aufzunehmen. Wie spannend er bis heute beides weiterentwickelt, führt er bei „Norwegian Woods“ unter anderem mit dem lyrischen Solo „Chicken Feathers“ und der effektvoll schillernden Jam-Version von John Hiatts Rock-Klassiker „Have A Little Faith“ vor.

Und schließlich ist da noch der Gitarrist Knut Reiersrud, der älteste, am weitesten gereiste und doch bei uns unbekannteste Musiker dieser JABP-Ausgabe. Sein Kraftfeld ist der Blues, in den er mit 18 in den USA von Buddy Guy und Otis Rush eigeführt wurde. Seitdem spielte er mit Stars wie Dr. John, Joe Cocker, Stevie Ray Vaughn oder den Five Blind Boys of Alabama. Doch wäre Reiersrud kein Norweger, dann hätte er neben dem amerikanischen Blueserbe auch nicht diese Sehnsucht nach den eigenen heimatlichen Klangtraditionen sowie diese, durch Aufenthalte in Afrika, Indien, Nepal oder Iran beförderte, unstillbare Neugier auf andere Sphären. Sein JABP-Solo „Jargo“ ist das beste Beispiel dafür.

Die norwegischen Individualisten präsentieren sich  immer noch als Speerspitze des europäischen Jazz. Dieser hat sich schon lange vom Mutterland USA emanzipiert und entscheidende Entwicklungen in Gang gesetzt.

Solveig Slettahjell / vocals, Bugge Wesseltoft / piano & synths; except 02 & 05 Knut Reiersrud / guitars & vocals In The Country: Morten Qvenild / piano & synths; except 04 & 06 Roger Arntzen / bass Pål Hausken / drums

cover_norwegian-woods

Format:CD
Kat Nr.: ACT 9569-2
Barcode: 614427956927
VÖ. Deutschland:06.06.2014

Tracklisting
01 Ingen Vinner Frem Til Den Evige Ro
(trad. / arr. by K. Reiersrud & M. Qvenild) 8:42
02 Can I Come Home Now (Morten Qvenild) 7:14
03 Have A Little Faith In Me (John Hiatt) 7:06
04 Chicken Feathers (Steve Kuhn) 6:34
05 Jargo (Knut Reiersrud) 3:35
06 Sæterjentens Søndag
(K. Reiersrud & B. Wesseltoft, based on Ole Bull) 8:35
07 Ned I Vester Soli Glader (traditional) 3:57
08 Take It With Me (Kathleen Brennan / Tom Waits) 8:30
09 Nobody’s Fault But Mine
(trad. / arr. by M. Qvenild & S. Slettahjell) 7:44
Produced by Siggi Loch & the artists
Recorded live in concert at the Berlin Philharmonie (KMS), March 11, 2014. Presented by Stiftung Berliner Philharmoniker
Recorded, mixed, edited and mastered by Klaus Scheuermann
The parts of Mathias Eick do not appear on the album due to contractual problems
Dieses Album ist Knut Reiersruds Vater, Jon Andreas Reiersrud (25.9.1927 –
8.4. 2014) gewidmet: „Jazz at Berlin Philharmonic was his last musical and life experience and happened to be the best ever for him. Being a part of that beautiful day in Berlin was more than a dream for him.“ (Knut Reiersrud)

Foto: Norwegian Woods _ Solveig Slettahjell (c) ACT Dieter Srothmann

Ingrid
Ingrid

Kunst und Kultur, Musik und Bücher, ohne sie ist ein Leben denkbar, aber für mich sinnlos. Darum habe ich diesen Blog ins Leben gerufen. Es macht viel Spaß, ihn zu gestalten - ich hoffe, den Usern, ihn zu lesen.
Nicht alles, was gedruckt wird, muss gelesen, nicht jedes Album gehört werden. Was die User hier finden, gefällt mir und den Gastautoren, die ab und zu Lust haben, etwas zu schreiben.

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