Im fremden Land erkennt man die verlassene Heimat, doch wie erkennt man die Fremde, wie wird sie zur Heimat? Zwei Romane, die sich aus verschiedenen Perspektiven mit dem Thema Identität, Flucht und Heimat auseinandersetzen – zwei besondere Lesetipps.
Die Kunst zu verlieren von Alice Zeniter
Naïma, deren Vater als kleiner Junge mit seinen Eltern aus Algerien nach Frankreich geflohen ist, weiß nicht sehr viel über dieses Land, das einmal die Heimat ihrer Großeltern und ihres Vaters war. Sie findet auch niemanden, der es ihr näherbringt. Und deshalb muss sie selbst auf die Suche gehen.
Davon erzählt der wunderbare Roman von Alice Zeniter, vom Großvater Ali und seinen Olivenhainen. Ein Mann, groß von Gestalt, der sich sich mit seinen Brüdern ein Ansehen im Dorf erarbeitet. Sein Bauch wächst ebenso stetig wie seine Familie – ein eindrucksvolles Zeichen seines Reichtums.
Doch im Algerienkrieg unterstützt er die französischen Besatzer. Nie hat er darüber gesprochen. Doch nun wird er „Harki“ genannt – Verräter.
Den einzigen Ausweg sieht Ali in der Flucht nach Frankreich. Er und seine Familie sind nicht alleine. Das damals hastig errichtete Auffanglager spricht Zeugnis davon. Mehrere Monate verbringt die Familie dort, umgeben von Zäunen, in Zelten, stark eingeschränkt in ihren Bewegungsmöglichkeiten. Einer stetig wachsenden Zahl von Flüchtlingen ausgeliefert. Aus dem selbstbewussten Ali wird ein demütiger Riese, der nicht einmal eine Unterschrift unter ein Dokument setzen kann. Hamid und seine Geschwister nehmen das mit Bestürzung wahr.
Als die Familie ihren endgültigen Wohnsitz in einer Sozialbausiedlung bekommt, Ali in einer Fabrik Arbeit findet, wird Algerien zu einem Überbleibsel, versteckt in mitgebrachten Gegenständen, die in der neuen Wohnung fehl am Platze sind. In der dritten Generation ist Algerien verblasst – bis Naïma die Geschichte ihrer Familie neu erzählen kann…
Bunt und schillernd, berührend und klug versteht es die Autorin, von Entwurzelung, Anpassung und Sehnsüchten zu erzählen und von der Suche nach freier Entfaltung. Ein wunderbarer, etwas anderer Familienroman, der von der ersten bis letzten Seite fesselt.
Die Kunst zu verlieren
Alice Zeniter
Erschienen am 01.02.2019
Übersetzt von: Hainer Kober
560 Seiten, Hardcover mit Schutzumschlag
EAN 978-3-8270-1373-6
Verlag: Piper / Berlin Verlag
Lesungen der Autorin unter:
https://www.piper.de/buecher/die-kunst-zu-verlieren-isbn-978-3-8270-1373-6
Vergiss kein einziges Wort von Dörthe Binkert
Martha, Maria und Magda – drei Frauen, drei Generationen, die eines gemeinsam haben, sie leben im schlesischen Gleiwitz, einer Grenzregion, die durch wechselnde politische Systeme wechselnde Perspektiven und lebensverändernde Regulierungen erfahren. Was gestern noch Gültigkeit hatte, ist plötzlich falsch. Marthas Söhne entwickeln sich diametral entgegengesetzt, der eine heiratet eine Polin und gerät ins Abseits, wogegen der andere sich denen anschließt, die bald die Gewalt an sich reißen. Sie bereiten Angst und Schrecken, bevor sie den 2. Weltkrieg anzetteln werden.
Trotz allem wird in den Familien, ob deutsche, polnische oder tschechische, geliebt, werden Kinder erzogen, wird geweint und gelacht. So ist Maria eine tüchtige Krankenschwester geworden. Pragmatisch wie sie ist, findet sie immer eine Lösung.
Doch bald stellt sich für viele die Frage: Bleiben oder in den Westen fliehen? Der Krieg ist fast zu Ende, doch die Gefahr noch lange nicht. Die russische Armee kommt auf dem Weg nach Berlin in Gleiwitz vorbei und hinterlässt gewalttätige Spuren, und polnische Milizen machen sich breit, plündern und verhaften. Viele besinnen sich jetzt ihrer polnischen Wurzeln, auch Magda, deren Anpassungs- und Durchsetzungsfähigkeit sehr groß ist. Doch dann lernt sie Aron Sperber kennen…
Lebendig und detailliert lässt die Autorin Dörthe Binkert mit ihrem Roman eine Welt aufleben, die von den 20er- bis zu den ausgehenden 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts reicht. Faszinierend schildert sie, wie sich die Menschen in einer Zeit und Region bewegen, die durch politische und soziale Veränderungen gekennzeichnet war, wo Krieg und Frieden und damit Freude und Leid dicht beeinander lagen. Ein sehr kluger und unterhaltsamer Roman.
Vergiss kein einziges Wort
Dörthe Binkert
dtv Allgemeine Belletristik
Originalausgabe, 672 Seiten
ISBN 978-3-423-28964-1
21. September 2018
Lesungen:
München, 26.03.2019
Lesung mit Dörthe Binkert
Dörthe Binkert »Vergiss kein einziges Wort«
Datum: Dienstag, 26.03.2019
Zeit:19:00 Uhr
Ort:Haus des Deutschen Ostens
Am Lilienberg 5
Moderation: Prof. Dr. Andreas Otto Weber
Wolfhagen, 03.05.2019
Lesung mit Dörthe Binkert
Dörthe Binkert »Vergiss kein einziges Wort«
Datum:Freitag, 03.05.2019
Zeit:19:00 Uhr
Ort:Buchhandlung Mander
Schützeberger Str. 29