Visionär des Schreckens: Georg Heym zum 110. Todestag

Heute vor 110 Jahren starb Georg Heym im Alter von 24 Jahren beim Schlittschuhlaufen auf der Havel. Mit seinem tragischen frühen Tod verlor der deutsche Frühexpressionismus eine seiner profiliertesten Stimmen. Manchen gilt Heym als einer der größten Dichter des 20. Jahrhunderts. Er schrieb Dramen und Kurzgeschichten, ist aber vor allem als Dichter bekannt. Seine erste Gedichtsammlung „Der ewige Tag“ erschien 1911; seine zweite „Umbra Vitae“ wurde posthum im Jahr seines Todes veröffentlicht.

Rebell gegen gesellschaftliche Konventionen

1887 in Schlesien geboren, wächst Heym in gutbürgerlichen, konservativ geprägten Verhältnissen auf. Sein kurzes Leben ist ein ständiger Kampf gegen gesellschaftliche Konventionen. Früh rebelliert der unruhige Heranwachsende gegen das Spießertum seiner Eltern. Mal demoliert er Zäune, dann das Ruderboot seines Gymnasiums, was zum Schulverweis führt. Zur Entspannung liest er: Hölderlin, Kleist, Grabbe, Baudelaire und Rimbaud – und schreibt eigene Gedichte. Sein autoritärer Vater, ein Militärstaatsanwalt, erwartet von seinem Sohn in seine Fußstapfen zu treten. Nur widerwillig beugt sich Heym dem Willen seines Vater und studiert Jura in Würzburg, Jena und Berlin, wo er das Erste Staatsexamen ablegt. Den anschließenden Vorbereitungsdienst an einem Berlin Gericht muss er jedoch bereits nach vier Monaten wegen unzulässiger Vernichtung von Akten wieder verlassen.

Literarische Anerkennung im „Neuen Club“

1910 tritt Heym dem Neuen Club bei, einem aus einer Studentenverbindung an der Berliner Universität hervorgegangenem literarischen Zirkel, dem unter anderem Kurt Hiller, Jakob von Hoddis angehören und bei dem Else Lasker-Schüler, Gottfried Benn und Karl Kraus häufig zu Gast sind. Ein eigentliches Ziel hat der Klub nicht. Was seine Mitglieder vereint, sind die radikale Ablehnung der herrschenden Kultur und der Wunsch nach Umwälzung der politischen Verhältnisse und ästhetischen Formen. Wie im Film „Club der toten Dichter“ stellen die Mitglieder ihre Arbeiten vor. Heyms  Gedichte finden hier sofort großen Anklang. Im Januar 1911 veröffentlicht der Verleger Ernst Rowohlt das erste und einzige Buch, das zu Lebzeiten Heyms erschien: „Der ewige Tag.“

Apokalyptische Lyrik

Der Lyriker Georg Heym ist keiner, der gefallen will. Die Lektüre seiner Gedichte, die meisten davon in einer schonungslosen Sprache gereimte Vierzeiler, sind üppig, schaurig, makaber und prophetisch. Sie handeln von Irren und Außenseitern und der schäbigen Gemeinheit der Masse. Heym findet für das, was ihn zu sagen bedrängt, kraftvolle, manchmal apokalyptische Bilder. Im Gedicht „Der Krieg“ zum Beispiel, der die Schrecken der kommenden Weltkriege vorwegnimmt, kommt der Krieg als Dämon über die Menschen, verbreitet erst stille Angst und entfesselt dann immer mehr Gewalt und Chaos. Eine Reihe von Gedichten thematisiert die Stadt und vermittelt oft das Gefühl, dass die Stadt und Gebäude eine Art lebendiges Wesen sind, das seine Bewohner gefangen nehmen oder bedrohen kann. Auch mit den Ängsten und Zweifeln des Menschen befasst sich Heym insbesondere in dem Gedichtzyklus „Die Irren“, in dem die Sehenden und Gesunden die Außenseiter in einer verlogenen Welt sind, deren vergangenes Idyll mit der fortschreitenden Technik und dem ungestümen Wachstum der Städte, aber auch dem bürgerlichen Kadavergehorsam unterging.

Meisterhafte sprachliche Visualisierungen

Zu Heyms Eigenschaften gehört eine große szenische Begabung, Dinge vor dem inneren geistigen Auge des Lesers sichtbar zu machen. Viele seiner Gedichte folgen dem Lauf eines Flusses oder einer Prozession oder schwenken über Stadtbilder und Landschaften:

„Der blaue Schnee liegt auf dem ebenen Land,               

 Winter dehnt. Und die Wegweiser zeigen

Einander mit der ausgestreckten Hand

Der Horizonte violettes Schweigen.

Hier treffen sich auf ihrem Weg ins Leere
Vier Straßen an. Die niedren Bäume stehen
Wie Bettler kahl. Das Rot der Vogelbeere
Glänzt wie ihr Auge trübe. Die Chausseen…

Aus: Der Winter, 1911

Die Stimmung dieser Szene ist, wie viele andere auch, düster. Das ist der Expressionismus. Auffallend ist auch die kühne kompositorische Verwendung von Farben: Blau, Violett, Rot. Als Quelle der Inspiration wird oft Van Gogh erwähnt, dessen Bilder Heym kannte und bewunderte. Oft enden Heyms Gedichte eminent malerisch mit dem Fluchtpunkt des Horizonts.

Vorausgeahntes Ende

Am 16. Januar 1912 beschließen Georg Heym und sein Freund Ernst Balcke auf der Havel vor den Toren der Stadt Schlittschuh zu laufen. Nach tagelangem strengem Frost ist der Fluss völlig zugefroren. Als Balcke vor ihm lief, bricht das Eis unter seinen Füßen ein und er stürzt in die eisigen Fluten. Der entsetzte Heym eilt dem Freund zu Hilfe, um ihn aus dem Wasser zu ziehen. Doch als er sich dem Loch nähert, gibt das Eis nach, und auch er fällt ins Wasser. Nach halbstündigen Kampf sinkt er auf den Grund der Havel. Forstarbeiter am Ufer beobachten die Szene, können aber nicht mehr helfen. Heym und Balcke ertrinken. Erst zwei Tage später werden ihre Leichen aus dem Fluss geborgen.

In seinen Tagebüchern hat Heym einen Albtraum notiert, der erstaunliche Parallelen zu dem späteren Unfall aufweist. Im Gedicht  „Die Tote im Wasser“ nahm der Dichter auf erschreckende Weise sein tragisches Ende vorweg. Heyms Albtraum wurde wahr. Der Albtraum, den er für seine Welt sah, kam nur ein paar Jahre später. Manche schreiben Poesie, manche träumen sie, andere leben Poesie. Georg Heym tat alles drei.

Titelbild: Gemeinfrei Quelle

Standardbild
Hans Kaltwasser
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