Die deutsche Regisseurin Nora Fingscheidt hat sich einen Namen gemacht mit Filmen, die die vernarbte weibliche Psyche erkunden. „Systemsprenger“ handelt von einem traumatisierten Mädchen, das mit seinen unkontrollierten, gewalttätigen Wutausbrüchen anderen und sich selbst großen Schaden zufügt. In „The Unforgivable“ kämpft Sandra Bullock als Ex-Häftling darum, ihren Platz in der Welt wiederzufinden. Fingscheidts dritter Spielfilm THE OUTRUN, der ab heute im Kino zu sehen ist, handelt von einer jungen Alkoholikerin, die den steinigen Weg zurück ins Leben sucht und schließlich findet. Einsamkeit und eine tiefe spirituelle Verbindung zur Natur helfen ihr dabei, ihre Sucht in den Griff zu bekommen.
Im Mittelpunkt der Geschichte steht die Biologie-Doktorandin Rona, die sich in der Partyszene von Hackney in London verirrt hat und abstürzt. Nach zehn Jahren kehrt sie in ihre Heimat auf den Orkney-Inseln zurück und versucht, das fragile Gleichgewicht zu halten, das sie nach einem längeren freiwilligen Aufenthalt in der Entzugsklinik gefunden hat. Ihre Eltern leben mittlerweile getrennt, so dass sie bei ihrer religiös konvertierten Mutter Annie wohnt, während sie ihrem Vater Andrew auf der Schafsfarm bei der Lammzeit hilft. Andrew leidet an einer bipolaren Störung und lebt in einem Wohnwagen, seitdem ihn die finanzielle Not zwang, das Haus der Familie zu verkaufen. Während sich Rona um das Ablammen kümmert, überfallen sie bruchstückartig die Erinnerungen an ihre rauen, betrunkenen Tage in London, untermalt von der dröhnenden Technomusik aus dem Kopfhörer, die viele diese Erinnerungen begleiten.
Diese Gedanken kollidieren auch mit den Erinnerungen an die manischen Höhenflüge ihres Vaters, der vor Jahren in einem plötzlichen Anfall die Fensterscheiben zertrümmerte und die stürmischen Winde begrüßte. Der ältere Andrew, den Rona bei ihrer Rückkehr vorfindet, scheint zunächst stabiler zu sein. Doch während Rona noch innerlich darum kämpft, nicht rückfällig zu werden, verfällt ihr Vater in einen katatonischen Zustand, um dann fieberhaft über die Umwandlung seines Grundstücks in einen Windpark zu sprechen.
Der Wendepunkt kommt schließlich, als Rona einen Sommerjob annimmt, bei dem sie Vögel erforscht und sich in der Einsamkeit inmitten der atemberaubenden wilden Natur der Orkneys mit dem versöhnt, was ihr in London widerfahren ist.
THE OUTRUN basiert auf den Memoiren der schottischen Journalistin Amy Liptrot. Fingscheidt erzählt die Geschichte nicht chronologisch, sondern springt in der Zeit hin und her, von Ronas Abwärtsspirale in London, über die Zeit, die sie mit ihren Eltern in ihrem Haus auf den abgelegenen Orkney-Inseln verbringt, bis hin zu ihrer Arbeit bei der Gesellschaft für Vogelschutz. Diese Zeitsprünge verhindern, dass der Film in eine konventionelle, rührselige Heilungsgeschichte abgleitet. In der einen Minute sehen wir, wie Rona glücklich ist und in der nächsten in einer Toilette kotzt. Das ist erschütternd, aber äußerst effektiv. Die unterschiedlichen Zeitebenen sind sorgfältig miteinander verwoben, wobei die unterschiedlichen Haarfärbungen Ronas dem Zuschauer helfen, die Zeitleiste zu sortieren.
Im durchdachten Drehbuch gibt es keine magische Epiphanie, die zur Heilung führt, sondern nur eine Anhäufung von Erfahrungen, von Ronas Begegnungen mit der freundlichen Gemeinschaft der Inselbewohner, über ihre zunehmende Verschmelzung mit der Natur, bis hin zu eisigen Tauchgängen im Meer, bei denen sie vor Freude über schwimmende Robben heult. Geradezu opernhaft wirkt die Schlusssequenz, wenn Rona auf einer Klippe stehend Wind und Wellen „befiehlt“, wobei sie zum ersten Mal die Kontrolle über ihre selbstzerstörerischen Impulse zu erlangen scheint.
Saoirse Ronan, die der Dreh- und Angelpunkt dieses außerordentlichen Films ist, brilliert in der Rolle der Rona. Sie wird ihr wahrscheinlich eine 5. Oscar-Nominierung einbringen.
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Fotos: © The Outrun Ltd./STUDIOCANA