Seine Karriere begann der 1950 als Stevland Hardaway Judkins Morris geborene Stevie Wonder als 11-jähriger Mundharmonikaspieler. Außerdem spielte er Klavier und Schlagzeug und sang im Kirchenchor. Offenbar so gut, dass sein Talent dem jungen, aufstrebenden Musiklabel Motown nicht verborgen blieb, der prompt das „Wunderkind“ 1961 unter Vertrag nahm. Mit Hits wie „I was made to love her“, „My Cherie Amour“, „For Once in My Life“ und „Uptight (Everything’s Allright)“ wurde er der heißeste Künstler von Motown.
Doch als das nächste Jahrzehnt anbrach, lief der Vertrag, den Stevie Wonder als Minderjähriger unterschrieben hatte, aus. Um seinen Star nicht zu verlieren, gewährte Motown-Chef Berry Gordy dem jungen Musiker eine bis dahin unbekannte kreative Freiheit von der legendären „Hitfabrik“ des Labels. Wonder machte sich selbst zu einem Autor, der etwas zu sagen hatte und brach mit der Motown-Tradition, die anstatt einfach nur seine neueste Hit-Single mit weniger bedeutenden Füllstücken zu bündeln. Stattdessen behandelte Wonder das Albumformat als eigenständige Kunstform und lieferte im Laufe des Jahrzehnts fünf solide Meisterwerke ab.
Es ist schwer, einen Favoriten aus diesen zu wählen, aber das Album TALKING BOOK hat für uns die Nase vorn, das heute vor 50 Jahren erschien. Der Sound des Albums wird von Wonders überragender Keyboardarbeit, insbesondere den Synthesizern, geprägt. Während die Synthesizer Stücken wie „Maybe Your Baby“ eine funkige Note verleihen, erinnern die dezenten Hohner Clavinet-Verzierungen in „Big Brother“ an eine sechssaitige Akustikgitarre. Die tonangebende Mundharmonikaarbeit in mehreren Tracks lässt dagegen Folk- und Blues-Einflüsse erkennen.
Die politische Schärfe, die seinen Nachfolger „Innervisions“ auszeichnet, fehlt hier größtenteils. Stattdessen ist die Liebe das beherrschende Thema. Während Wonders Motown-Kollege Marvin Gaye über die dunklen und schmutzigen Seiten der Liebe sang, warb Wonder für ihre heilige, ekstatische und verjüngende Kraft. Die Meisterschaft von TALKING BOOK besteht darin, dass das Album die Liebe preist, ohne dass die Songs jemals zu Schnulzen verkommen. Stücke wie „You Are the Sunshine of My Life“ und „Tuesday Heartbreak“ sind von überragender Leichtigkeit und schöpfen ihre Kraft aus wunderbaren melodischen Klängen.
Der Titel „You and I (We Can Conquer the World)“ ist eine erhabene säkulare Hymne, bei der Stevie Wonder mit schwebenden thereminartigen Synthesizern im Duett spielt. Inspiriert zu diesem Song wurde er von seiner Frau, der Soul-Sängerin und Songschreiberin Syreeta Wright.
Mit dem scharfen, zynischen „Superstition“, das von den negativen Folgen des Aberglaubens handelt, legte Wonder einen der am schnellsten wiedererkennbaren Drum-Licks der Popgeschichte hin und schöpfte das ganze funkige Potenzial des Clavinets aus. Das Stück hatte so viel Groove, dass es sogar die Sesamstraße in einen rauen Dancefloor verwandelte. TALKING BOOK reichte aus, um zu zeigen, dass es nichts gab, was Stevie Wonder nicht konnte – und er sollte die Welt für den Rest des Jahrzehnts in seinen Bann ziehen.