Manche Musiker genügen sich offenbar selbst nie. Steve Lehmann ist so einer. Der 45-jährige unermüdlich innovative Altsaxofonist, Komponist und Bandleader aus New York gilt als eine der richtungsweisenden Persönlichkeiten des aktuellen Jazz. Seine Alben „Travail, Transformation, and Flow“ (2009) und „Mise en Abîme“ (2014) haben die Fachwelt aufhorchen lassen. Seine Arrangements werden von renommierten Orchestern aufgeführt. Dennoch scheint er sich stets der Herausforderung stellen zu müssen, etwas zu tun, was er noch nicht erreicht hat.
Mit seinem neuesten Album EX MACHINA erkundet der Amerikaner in Zusammenarbeit mit dem französischen Gitarristen Frédéric Maurin und dessen dynamischen Orchestre National de Jazz (ONJ) die weitreichenden harmonischen Möglichkeiten des spektralen Jazz. Hierbei findet eine hochmoderne Künstliche Intelligenz Anwendung, die in Echtzeit auf die verschiedenen Improvisationsschritte der Musiker reagiert und die orchestralen Arrangements in fantasievoller Weise ergänzt.
An vielen Stellen wird der Computer so zum Generator virtueller Orchestrierungen und zum Improvisationspartner der Musiker. Nicht von ungefähr erinnert der Name des Albums an das ikonische Werk „Tempus Ex Machina“ des französischen Komponisten Gérard Grisey, der mit seiner Erforschung des Naturphänomens der Obertöne den Grundstein für eine neue Musikrichtung legte.
In jeder Wendung von EX MACHINA stürmt das großartige Jazzorchester entweder über rockige Polyrhythmen oder erschafft wohlgeordnete melodische Hauptlinien gleichsam aus dem Nichts, die manchmal Momente völliger Stille mit wilden, perfekt synchronisierten, nervös flatternden Linien durchbrechen.
Das pulsierende „39“ eröffnet das Album mit einhüllenden Klängen, die von magnetischen Trommelschlägen und majestätischer orchestraler Größe bestimmt werden. Dann tritt Lehmans herbes, kämpferisches Altsaxofon hervor und bahnt sich mit fragmentierten Klängen seinen Weg durch eine Vielzahl elektronischer, von metallisch bis digital wechselnden Geräuschen.
In den Stücken „Chimera“ und „Alchimie“ wird das Vibraphon von einer hauchdünnen, ätherischen Klangschicht überschattet, die das Ensemble hinter ihm antreibt. Ganz andere Schichten kommen zum Vorschein, wenn das Album das Tempo zügelt. Das Stück „Ode to akLaff“ besticht vor allem durch seine große harmonische Dichte, wobei die Voicings des Ensembles durch die elektronischen Texturen dramatisch verstärkt werden. Besonders stimmungsvoll und atmosphärisch dicht sind auch Maurins Kompositionen „Speed-Freeze (Parts 1 and 2)“ und „Le Seuil (Parts 1 and 2)“ im letzten Teil des Albums, in dem sich das Ensemble sorgfältig und behutsam durch einen subtilen Dialog mit seinem nicht-menschlichen Partner bewegt.
Eigentümlicherweise ist eines der fesselndsten Stücke des Albums dasjenige, das am wenigsten offensichtlich von Elektronik begleitet wird: Lehman’s fulminantes „Jeux d’Anches“. Hier hat die Big-Band eine große Intensität, die durch das fantastische Spiel des Ensembles und ein besonders kraftvolles Trompetensolo angeheizt wird.
EX MACHINA ist ein großartiges Album, das die Verbindung von Improvisation und Komposition auf eine neue Stufe hebt und mit seinen innovativen Harmonien, drängenden Rhythmen, virtuosen Soli und einem einprägsamen Zusammenspiel der musikalischen Kollaborationspartner besticht. Wenngleich das Album vielfach von computergesteuerten Improvisationen durchdrungen ist, so sind es freilich die erstklassigen Solisten des ONJ sowie Lehmann und seine langjährigen musikalischen Mitstreiter Jonathan Finlayson (Trompete) und Chris Dingman (Vibraphon), die den Ton angeben.