Sasha Filipenko – Kremulator

Wie beurteilt jemand den Tod, wenn er täglich damit konfrontiert wird? Denn am Tag und abwechselnd auch des Nachts ist Pjotr Nesterenko im Roman des Autors Sasha Filipenko damit beschäftigt, die Spuren der Vernichtung gänzlich auszulöschen, damit nur noch Asche übrig bleibt. Nach einem wechselvollen Leben als Offizier und Pilot wird Pjotr Direktor des Moskauer Krematoriums. Und Stalin sorgt dafür, dass er genug zu tun hat. Der paranoide Führer der Sowjetunion lässt die Abweichler, die angeblichen Spione und die einstigen Revolutionshelden nach Scheinprozessen hinrichten und eiligst ins Krematorium bringen.

Pjotr dagegen gelangt zu der Überzeugung, dass er gar nicht sterben kann. Bereits als Kind sah er täglich seinen Namen auf einem Grabstein im Dorffriedhof stehen, wenn er mit seiner Mutter das Haus verließ und so oft in seinem Leben ist er dem Tod knapp entronnen. Er kennt die verschiedenen Arten eines tödlichen Kopfschusses und sieht die Möglichkeit, auch dann mit dem Leben davon zu kommen. Er sinniert über das Sterben und verflucht den Krieg, der keine Logik besitzt und zum Töten zwingt, ohne dass man es jemals wollte.

Und er hat gelernt, dass es keinen Krieg braucht, um getötet zu werden. Seine Liebe zu Vera, die er seit Kindheitstagen kennt, hält ihn lebendig. Lange hat er auf sie gewartet, und als er 1941 verhaftet wird, schreibt er in seinem Tagebuch immer wieder aufs Neue von seiner großen Liebe zu ihr.
Die Verhöre sollen ihn als Spion überführen. Als es keine Hinweise dafür gibt, wechselt der Bürger Ermittler zu einer neuen Anschuldigung. Und manchmal kommt Nesterenko der Gedanke, dass Glück in der Sowjetunion bedeutet: Je kürzer man hier leben muss, desto besser …

Mit Ironie, entlarvendem Humor und großer Wortgewandtheit gelingt es dem Autor Sasha Filipenko in seinem Buch Kremulator historische Fakten und Fiktion zu einem sowjetischen gruseligen Panoptikum zu verbinden. Horror und der Wille, in diesem Land zu überleben, gehen eine fatale Verbindung ein. Nichts ist vorhersehbar! Zwar verweigert sich der menschliche Verstand dem Irrsinn und Terror, die politische Doktrinen und die Diktatur eines Machtmenschen anzetteln, doch was macht beides dennoch so erfolgreich? Wie wir es auch gegenwärtig erleben können.

Ein wichtiger und sehr lesenswerter Roman, der auf der Grundlage historischer Dokumente das fiktive Leben eines Mannes in der Zeit zwischen 1917 und 1941 nachzeichnet.

Kremulator von Sasha Filipenko
Aus dem Russischen von Ruth Altenhofer

256 Seiten
erscheint am 22. Februar 2023

978-3-257-07239-6
Verlag: Diogenes

Sasha Filipenko
Sasha Filipenko, geboren 1984 in Minsk, ist ein belarussischer Schriftsteller, der auf Russisch schreibt. Nach einer abgebrochenen klassischen Musikausbildung studierte er Literatur in St. Petersburg und arbeitete als Journalist, Drehbuchautor, Gag-Schreiber für eine Satireshow und als Fernsehmoderator. Sein Roman ›Die Jagd‹ war ein ›Spiegel‹-Bestseller. Sasha Filipenko ist leidenschaftlicher Fußballfan und wohnte bis 2020 in St. Petersburg. Er musste mit seiner Familie Russland verlassen und lebt in der Schweiz. Der Autor ist auch auf der lit.COLOGNE anzutreffen.

Auszeichnungen
Rote Kreuze auf der Shortlist für ›EBRD Literaturpreis‹, vergeben von der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung für übersetzte Belletristik, 2022
›Writer in Residence‹ bis Juli 2021: Fondation Jan Michalski, Montricher, Nähe Genfersee, Schweiz, 2021

Standardbild
Ingrid
Kunst und Kultur, Musik und Bücher, ohne sie ist ein Leben denkbar, aber für mich sinnlos. Darum habe ich diesen Blog ins Leben gerufen. Es macht viel Spaß, ihn zu gestalten - ich hoffe, den Usern, ihn zu lesen. Nicht alles, was gedruckt wird, muss gelesen, nicht jedes Album gehört werden. Was die User hier finden, gefällt mir und den Gastautoren, die ab und zu Lust haben, etwas zu schreiben.
Artikel: 3341

Schreibe einen Kommentar

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.