Roger Daltrey ist ein Mann mit vielen Talenten. Als Schauspieler verkörperte er den Komponisten Franz Liszt, den Bankräuber John McVicar, die Zwillingsbrüder Dromio in der Shakespeare-Produktion der BBC „Die Komödie der Irrungen“ und natürlich den „deaf, dumb and blind kid“ in der Rockoper „Tommy“. Vor allem aber hat er sich als Frontmann einer der größten Rockbands der Welt, der „Who“, einen festen Platz im kollektiven Gedächtnis der Musikwelt erobert. Hier verlieh seine markante Stimme den vom Gitarristen Pete Townshends geschriebenen Kampfansagen an die Welt der Erwachsenen („My Generation“) und Songs über emotionale Entfremdung (u.a. 5:15) viel Wut und Leidenschaft.
2014 marschierte Roger Daltrey mit dem Ex-Dr.-Feelgood-Gitarristen Wilko Johnson ins Studio, um das Blues-Album „Going Back Home“ aufzunehmen. Daltrey hat die Rückkehr zu seinen musikalischen Wurzeln offenbar gutgetan, so dass er den Wunsch verspürt haben mag, ein weiteres von Soul und Blues inspiriertes Album nachzulegen. Damals, Anfang der 1960iger Jahre, hatte es den Heranwachsenden nach der getanen ungeliebten Arbeit in einer Fabrik oft in die Schallplattenläden von Shepherd‘s Bush gezogen, immer auf der Suche nach Northern Soul, Blues und Gospel-LPs, deren Songs er dann am Wochenende mit seiner Band in den lokalen Gemeindesälen und Jugendzentren coverte.
Daltreys jüngstes Werk AS LONG AS I HAVE YOU ist ohne Zweifel eines seiner besseren und interessanteren Solo-Projekte. Die frühen Einflüsse aus einer Zeit, ehe er Erfolge mit den „Who“ feierte, sind ebenso spürbar wie die hochenergetische DNA der ursprünglich als Radau-Combo geschmähten britischen Rockband, deren Sänger er seit über fünf Jahrzehnten ist. Einige Songs des Albums hat Daltrey dabei selbst verfasst wie den Track „Certified Rose“, den er ursprünglich für seine Tochter geschrieben hat, und die eindringliche Ballade „Always Heading Home“. Die meisten Titel sind mehr oder minder bekannte Coverstücke.
Auf mehreren Songs spielt Bandkollege Pete Townshend die Gitarre, doch der hält sich eher vornehm zurück und stellt Daltrey nicht in den Schatten. Mick Talbots eingängigen Keyboards (u.a. Dexies and the Midnight Runners) und Sean Genockeys solide Sologitarre (u.a. Moke, Black Crows) bilden eine wunderbare Ergänzung zu Daltreys Gesang, der immer noch kraftvoll und beeindruckend ist.
„As Long As I Have You” ist ein Song aus den frühen Tagen, als Daltrey noch Frontmann der Band „The High Numbers“ war, die sich dann später in „The Who“ umbenannte.
“Out of Sight Out of Mind”, ein Song aus den 1940iger Jahren, der ursprünglich von Rudy West and the Five Keys gespielt wurde, erlebt hier in einer langsameren, mit exzellenten Bläsern besetzten Version eine seelenvolle Wiederbelebung. Der Titel „How Far“, im Original von Stephen Stills, könnte von den „Who“ sein. Er gehört zu den stärksten Songs des Albums und passt vorzüglich zum Titel „Where is a Woman to Go“, einem Song von Dusty Springfield, bei dem Daltreys Baritonstimme ebenso effektvoll zur Geltung kommt wie bei dem herzzerreißenden, gefühlsmäßig dichten Titel „Always Heading Home“. Auch der Scheidungsballade „The Love You Save“ von Joe Tex verleiht Daltrey mit seiner Stimme viel Ausdruck und Überzeugung.
Einen etwas zwiespältigen Eindruck hinterlässt indessen der Coversong „I’ve Got Your Love“ von Boz Scaggs, bei dem Daltrey leider fast zu einem drittklassigen Imitator von Rod Stewart degeniert. Kaum weniger erfreulich gelungen ist das Cover von Nick Cave „Into my Arms, das vom Register her Reminiszenzen an die brüchige Stimme von Johnny Cash auf dessen Album America IV weckt, ohne diesem oder der düsteren Melancholie des Originals wirklich gerecht zu werden.
Doch das trübt den rundum positiven Gesamteindruck, den das Album hinterlässt, in keiner Weise, und der mittlerweile 74jährige Roger Daltrey beweist mit AS LONG AS I HAVE YOU überzeugend, dass das Alter wohl doch nur eine Zahl ist.
As Long As I Have You
Roger Daltrey
Track Album
VÖ: 01.06.2018
LABEL: Polydor
PHOTO CREDIT: Steve Schofield