William Henry Devereaux Jr. hat schon bessere Tage erlebt. Seine Frau Lily ist verreist, um sich für eine andere Stelle außerhalb ihres Wohnortes zu bewerben. Wer weiß, vielleicht will sie ihn ja auch verlassen. Hank wird bald fünfzig und ist Dozent und Interims-Fachbereichsleiter am englischen Seminar der kleinen Universität Railton in Pennsylvania. Zurzeit ist er dort nicht gerne, denn ständig wird Hank von seinen Kollegen wegen der drohenden Budgetkürzungen angesprochen. Schließlich wird er sogar von einer Kollegin bei einer Sitzung verletzt. Zwar unbeabsichtigt, aber so, dass die Verletzung seiner Nase unübersehbar ist. Eine seiner zwei erwachsenen Töchter hat Stress mit ihrem Mann wegen des neuen Hauses, das viel zu teuer ist.
Zudem wird ihm voller Erstaunen bewusst, dass er immer noch an dieser drittklassigen staatlichen Hochschule tätig ist. Vor Jahren hatte er eine Karriere als Schriftsteller angepeilt, bisher jedoch nur ein einziges Buch herausgegeben. Immerhin ein Kritikererfolg.
Doch William Henrys angeborene Fähigkeit, mit Scherzen und Ironie dem täglichen Wahnsinn zu begegnen, hindert ihn daran zu verbittern. Seine Ab- oder Wiederwahl als Fachbereichsleiter steht kurz bevor, und er wird nicht grundlos verdächtigt, eine Gans getötet zu haben. Nun steht auch noch die Rückkehr seines lange abwesenden Vaters bevor. Der berühmte Gelehrte, der nur aus Intellekt bestand, verließ seine Frau und seinen kleinen Sohn wegen einer jungen hübschen Doktorandin.
Seit Lily fort ist, scheint er „ein Mann in Schwierigkeiten zu sein“. Doch Hank versucht, das philosophische Prinzip Ockhams Rasiermesser anzuwenden, die einfachste Erklärung eines Phänomens oder Problems ist in der Regel die richtige. Als er sich wenige Minuten vor der entscheidenden Abstimmung seiner Kollegen zu seiner Wiederwahl in einem dreckigen Kriechgang unter der Decke des Raums wiederfindet, überkommen ihn Zweifel, ob sich dies mit der Ockhamschen Philosophie vereinbaren lässt.
Richard Russo nimmt in seinem Roman „Mittelalte Männer“ die akademische Welt aufs Korn und seine urkomischen, aber sehr lebendig geschilderten Kolleg*innen, denen es nur um die Lebenzeitverlängerung ihrer Stellen zu gehen scheint.
Sein Roman überzeugt aber vor allem durch die perfekten Dialoge – lakonisch, unaufgeregt, witzig und doch von entwaffnendem Tiefgang. Ein großes Lesevergnügen, nicht nur für Männer. Nein, eine richtige Frauenlektüre, die Aufschluss über die verletzliche Männerseele gibt, denn auch Männer können an hysterischen Symptomen leiden.
Richard Russo
MITTELALTE MÄNNER
Roman
608 Seiten
Erscheinungstag: 13.08.2021
Verlag: Dumont