Mit milder Ironie blickte der Barde Ian Anderson im Eröffnungssong „Minstrel in the Gallery“ des gleichnamigen Jethro-Tull-Albums aus dem Jahre 1975 auf sein Publikum herab und beobachtete Menschliches und allzu Menschliches der conditio humana, um sich schließlich in den Blicken der anderen wiederzufinden – Auftakt zu einem exzellenten Liederzyklus, der um gescheiterte Liebesbeziehungen, erotische Fantasien über eine Tänzerin in schwarzem Satin, Impressionen der Londoner Baker Street und andere Themen kreist.
Mit „Minstrel in the Gallery“ kehrten Jethro Tull nach dem von der Kritik seiner Zeit als überproduziert und schwer zugänglich verrissenen Album „Passion Play“ und dem hastig zusammen gestückelten Opus „War Child“ zu dem zurück, was die Band am besten konnte: feinster progressiver Rock, in dem stilistische Elemente aus Hardrock, Jazz, Folklore und Klassik in einzigartiger Weise verschmelzen.
Vielen Fans gilt gemeinhin die Querflöte Andersons, die der Frontmann des britischen Quintetts abwechselnd mit der „schmutzigen“ Technik des Überblasens, des Hineinsummens und der aus dem Jazz stammenden Flatterzunge bearbeitet, als das Markenzeichen der Band schlechthin. Mit gutem Grund könnte man freilich genauso das jähe Wechselspiel zwischen der leisen akustischen Gitarre Andersons und den von krachenden Drums sekundierten schneidenden Gitarrensoli Martin Barrs als prägendes Stilelement der Band ansehen. Die Variation dieser beiden Soundmuster, des Harten und Weichen, ist es, was die meisten Jethro-Tull-Alben auszeichnet. Ähnlich wie das „Chiaroscuro“, die geniale Lichtregie der Malerei Caravaggios und Rembrandts dramatisierende Helldunkel-Effekte schafft, sorgen Tull in einem musikalischen Sinn für ähnliche emotionalisierende Kontraste. Songs wie „Minstrel in the Gallery“ und „Cold Wind to Valhalla“ bezeugen dies auf schönste Weise.
Parlaphone hat das vor vierzig Jahren erschienene Album „Minstrel in the Gallery“ jetzt als prachtvolle Deluxe-Ausgabe herausgebracht. Die zwei CDs und DVDs umfassende „Grande Edition“ enthält neben dem um sieben Bonustracks erweiterten, in Stereo neu abgemischten Originalalbum einen Stereo-Remix mit zwei Bonustracks sowie diverse Remixe in 5.1 Surround und Stereo eines bislang unveröffentlichten Konzertes vom 5. Juli 1975 im „Palais du Sport“ in Paris. Die DVD enthält außerdem eine Live-Performance des Songs „Minstrel in the Gallery“ aus dem Pariser Konzert als neunminütiges Video. Abgerundet wird die opulente Edition durch ein 80-seitiges Booklet, das die Geschichte der Entstehung des Albums, Anmerkungen Ian Andersons zu den einzelnen Songs, Erinnerungen diverser Mitwirkender, die Lyrics sowie zahlreiche Fotos enthält.
Für den schmalen Geldbeutel ist das Album als Einzel-CD und Download erhältlich. Daneben erscheint „Minstrel in the Gallery“ als limitierte 180 g schwere Vinyl-Pressung.
Fazit:Selbst für den Tull-Fan, der glaubt alles von dieser bemerkenswerten Band zu haben, ein Muss.
VÖ: 01.05.2015
Label: Chrysalis / Warner Music Entertainment
Foto:Carl Dunn