Was um alles in der Welt bringt eine attraktive, verheiratete Mittdreißigerin dazu, eine Affäre mit einem 13-jährigen zu haben? Das ist die Frage, die der US-amerikanische Regisseur Todd Haynes in seinem neuen Film MAY DECEMBER stellt, der am 30.5.2024 in Deutschland anläuft. Der Plot könnte aus einer lüsternen TV-Seifenoper stammen, doch der US-Amerikaner, der mit Melodramen wie „Dem Himmel so fern“ (2002) und „Carol“ (2015) bekannt wurde, macht daraus eine intensive Charakterstudie über zwei höchst manipulative Frauen, die um jeden Preis bekommen wollen, was sie anstreben, und dabei die Männer in ihrem Umfeld auf der Strecke lassen.
Elizabeth Berry (Natalie Portman), ein bekannter TV-Star, reist nach Savannah, Georgia, um für ihre neue Rolle zu recherchieren. In ihrem nächsten Film soll sie Gracie Atherton-Yoo (Julianne Moore) spielen, eine Frau, die zwei Jahrzehnte zuvor in den Schlagzeilen der US-Boulevardpresse stand, nachdem sie eine Affäre mit einem 13-jährigen Jungen hatte. Als die Sache aufflog, wurde sie zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Noch in der Haft brachte Gracie ihr Kind zur Welt. Nach Verbüßung ihrer Haftstrafe ließ sie sich von ihrem Mann scheiden und heiratete den mehr als 20 Jahre jüngeren Joe. Gracie und Joe haben seitdem drei gemeinsame Kinder großgezogen – eines geht bereits aufs College, die beiden anderen stehen kurz davor. Gracie hat auch Kinder aus ihrer früheren Ehe, darunter einen Sohn, Georgie, eine unberechenbare, unheimliche Person mit einer manipulativen Ader.
Vom Besuch des populären TV-Stars bei dem ehemals skandalträchtigen Paar versprechen sich offensichtlich beide Seiten einen Vorteil: Elizabeth kann Gracies Eigenheiten studieren und einen Blick hinter die Kulissen werfen, um ihrer Darstellung mehr Authentizität zu verleihen. Gracie und Joe wiederum könnten versuchen, sich bei Elizabeth beliebt zu machen, in der Hoffnung, dass die Schauspielerin sie möglichst sympathisch darstellen und zu einer Korrektur des immer noch negativen Bildes von Gracies Familie beitragen wird.
Gracie und Joe haben in den letzten zwei Jahrzehnten offenbar viel Mühe darauf verwandt, so zu tun, als seien sie nie glücklicher gewesen. Doch Elizabeth spürt von Anfang an, wie zerbrechlich diese ungleiche Beziehung ist und beginnt, die Traumata der Vergangenheit zu erforschen. Dabei führt ihre Angewohnheit, jedem und allen spitze Fragen zu stellen, dazu, dass schließlich tektonische Verwerfungen in der scheinbar harmonischen Beziehung zwischen Gracie und Joe zutage treten, die nur schwer zu kitten scheinen. Während Gracie und Elizabeth in der ersten Hälfte des Films dominieren, verschiebt sich der Fokus fast unmerklich auf Gracies Mann Joe. Und ab da wird die Geschichte immer ernster, schwerer und sehr traurig.
Nicht alles funktioniert in Todd Haynes verworrenem, verzwicktem Drama MAY DECEMBER, bei dem nie ganz klar wird, wer hier eigentlich wen ausnutzt. Zudem mag manche Symbolik ein wenig zu plump sein. Aber es sind die exzellenten schauspielerischen Leistungen, die diesen Film unterhaltsam und sehenswert machen.
Mit Julianne Moore und Natalie Portman in den Hauptrollen ist MAY DECEMBER glänzend besetzt. Auch Charles Melton in der Rolle von Gracies Mann Joe brilliert. Er wirkt wie großes, freundliches männliches Kind, das durch die frühe Heirat mit Gracie seine Jugend übersprungen hat und vorzeitig in den mittleren Lebensabschnitt gestolpert ist. Am liebsten scheint er sich mit seiner Raupenzucht zu beschäftigen. Moores Gracie ist eine Mischung aus eiserner Contenance, sprödem Temperament und Verletzlichkeit, eine Frau, die ihre Beziehung zu Joe rationalisiert und allen Fakten zum Trotz an ihrem Selbstbild festhält, dass sie zu Unrecht an den Pranger gestellt worden ist.
Portmans Elizabeth wiederum ist eine Art weiblicher Machiavelli, deren wahren Gefühle nicht leicht zu erkennen sind und für die der Zweck die Mittel heiligt. Zu sehen, wie sich diese beiden Frauen misstrauisch belauern, sich wie Kriegerinnen umkreisen und dabei unter dem Deckmantel frostiger Höflichkeiten um die Aufrechterhaltung ihrer Fassaden und Lebenslügen ringen, gehört zu den ausgesprochenen Höhepunkten des Films. Dabei ist das Genre schwer festzulegen. Der Film schwankt zwischen schwarzer Komödie mit einem Hauch Trash, Vorstadtsatire und Tragödie hin und her.