Joker – ein intelligentes, spannendes, packend erzähltes Charakter-Drama

Ist es notwendig oder sinnvoll, die Entstehungsgeschichte eines der ikonischsten Comic- und Filmbösewichte preiszugeben, wenn eben dieser einen Großteil seiner Faszination gerade aus dem Umstand zieht, dass man nicht genau weiß, was ihn überhaupt zu einem Monster gemacht hat, was ihn antreibt, woher er kommt und was er überhaupt will? Oder kurz formuliert: Braucht es wirklich eine Origins-Story über den Joker?

Und diese Frage stellt sich umso mehr, nachdem Heath Ledger in Christopher Nolans „The Dark Knight“ dieser Figur vor rund zehn Jahren mit seiner außergewöhnlichen wie Oscar-prämierten schauspielerischen Leistung und Interpretation bereits ein filmisches Denkmal gesetzt hat. Der Nolan-Verfilmung wird übrigens auch in der einen oder anderen Joker-Szene im Schlussakt gekonnt Tribut gezollt. Passend dazu könnte „Joker“ tatsächlich die Vorgeschichte von Ledgers Verbrecherclown sein.

Joker
Joaquin Phoenix als Joker – Copyright 2019 Warner Bros. Entertainment Inc. All Rights Reserved. TM & © DC Comics / Niko Tavernise

Die Frage nach der Notwendigkeit beschäftigte nicht nur Fans des „Clown Prince of Crime“ oder der DC-Comics, seitdem bekannt geworden war, dass nach Rückzug von Regie-Legende Martin Scorsese nun „Hangover“-und „Oldschool“-Regisseur Todd Phillips mit „Joker“ an der ersten Origins-Story des berühmtesten Batman-Gegenspielers arbeitete. Ein Filmemacher, der sich vor allem mit derben Komödien einen Namen gemacht hat, soll also ein filmisches Psychogramm auf die Leinwand bringen, das des wohl großartigsten Bösewichtes aller Zeiten würdig ist?

Keine Frage: Dass dem „Joker“ gerade zu Beginn der Dreharbeiten so einige Skepsis entgegenschlug, kam aus eingangs erwähnten Gründen nicht von ungefähr.

Joker – Joaquin Phoenix – Copyright 2019 Warner Bros. Entertainment Inc. All Rights Reserved. TM & © DC Comics / Niko Tavernise

Doch bereits nach dem gelungenen ersten Trailer wich diese Skepsis bei den meisten Cineasten, Comicfans und Filmkritikern dann schnell ultimativer Vorfreude. Zu eindringlich und ästhetisch waren die Bilder, zu einnehmend die ersten Eindrücke von Joaquin Phoenix als grünhaariger Anarcho-Clown, die da vermittelt wurden. Dann gewann der 122 Minuten lange Streifen auch noch vor einigen Wochen den „Goldenen Löwen“ beim Filmfest in Venedig – aus Vorfreude wurde Hype.

Und nun ist „Joker“ seit dem 10. Oktober tatsächlich in den deutschen Kinos zu sehen. Endlich, mögen viele sagen. Und das Werk von Todd Phillips, das nicht Teil des DC Extended Universe sein soll und dies auch gar nicht will, ist tatsächlich überaus intensiv und sehenswert. Dabei aber auch keinesfalls frei von Schwächen.

Joker
Joker wird von seiner Mutter Penny (Frances Conroy) Happy genannt – Warner-Bros-Entertainment-©-DC-Comics_-Niko-Tavernise

Sein großer Traum ist es, einmal erfolgreicher Stand-up-Komiker zu werden. Und seine Mutter Penny (Frances Conroy), mit der er zusammen in einer heruntergekommen Wohnung in Gotham lebt, nennt ihn „Happy“ und sagt, er sei auf der Welt, um zu lachen und Freude zu verbreiten. Doch viel zu lachen hat der seit seiner Kindheit psychisch äußerst labile Arthur Fleck nicht in seinem Leben. Er schlägt sich als Werbe- und Kinderclown durch und leidet unter einer Art Lach-Tourette. Diese mentale Erkrankung sorgt dafür, dass er in den unpassendsten Situationen anfängt zu lachen. Er kann nichts dafür, er kann nur eine Visitenkarte verteilen, die sein Leiden erklärt. Doch die Menschen zeigen kaum Verständnis oder Mitleid. Vielmehr wird er gemobbt und verprügelt. Zu allem Überfluss streicht ihm die Stadt aufgrund von Einsparungsmaßnahmen auch noch seine psychologische Unterstützung und seine Medikamente.

Erst als er sich mit Nachbarin Sophie Dumond (Zazie Beetz) anfreundet und aufgrund eines eigenen Auftritts in die TV-Show seines geliebten Talkshow-Moderators Murray (Robert De Niro) eingeladen wird, keimt ein Hauch Zuversicht. Doch als auch die wenigen Dinge wegbrechen, die ihm vermeintlich zumindest etwas Halt gegeben haben, beginnt Arthurs dramatischer Absturz, in dessen Folge er nicht nur zu einem kaltblütigen Wahnsinnigen mutiert. Vielmehr wird er – abgehängt von einer kaltherzigen und verrohten Gesellschaft, die jegliche Empathie verloren zu haben scheint – mehr oder weniger unfreiwillig zur Ikone einer anarchistischen Gegenbewegung des Establishments. Derweil versucht ein gewisser Thomas Wayne (Brett Cullen) Bürgermeister zu werden…

Obwohl man von Anfang weiß, dass man in „Joker“ die Entwicklung eines Außenseiters zu Gothams Verbrecherkönig, also praktisch eine verfilmte Psychoakte eines labilen Menschen geboten bekommt, zieht der Film den Zuschauer von der ersten Sekunde an in seinen Bann. Hauptgrund dafür ist die überragende Performance von Joaquin Phoenix, der zumindest eine Oscar-Nominierung sicher haben dürfte.

Ausnahmedarsteller Joaquin Phoenix trägt den gesamten Film

Der bald 46 Jahre alte Golden-Globe-Preisträger und bereits dreifach Oscar-Nominierte hält sogar der ikonischen Interpretation Ledgers in „The dark Knight“ stand. Dabei ist er weder besser noch schlechter. Vielmehr gelingt es Phoenix, dem Joker seine ganz eigene und dabei ähnlich denkwürdige Note zu geben. Er trägt den gesamten Film praktisch allein. Und es darf durchaus bezweifelt werden, dass „Joker“ ohne die fast schon hypnotisierende Darstellung des Ausnahmekönners überhaupt (so gut) funktionieren würde.

Für diese Rolle nahm der „Walk the Line“-, „Her“- und „The Master“-Star mehr als 20 Kilogramm ab und geht völlig in ihr auf. Phoenix nimmt den Zuschauer hautnah mit auf die bestürzende Reise seine Entwicklung, die als abgelehntes erkranktes Opfer beginnt und, auch aufgrund ausbleibender Hilfe, schließlich in psychopathischem Wahn mündet. Wie viel kann ein Außenseiter der Gesellschaft, der versucht, in Ruhe irgendwie zu existieren, ertragen, bis aus Hilflosigkeit und Traurigkeit unbändige Wut und tiefer Hass werden, die sich in skrupelloser Gewalt entladen.

Joker – ein Produkt Gothams, also der Gesellschaft?

Phoenix lässt als Arthur Fleck für den Kinobesucher Wahn und Wirklichkeit verschwimmen, Schmerz, Wut, Hass, Traurigkeit und Befreiung werden hautnah miterlebt. Dabei ist es auch allein der starken schauspielerischen Leistung zu verdanken, dass man die innerhalb kurzer Zeit extrem schnell aufeinanderfolgenden Nackenschläge für Fleck nicht als übertrieben und unrealistisch anzweifelt. 

Und wenn der instabile Mann versucht, sein erzwungenes Lachen im Halse zu ersticken und sein Gesicht dabei zur Grimasse verzerrt, verkehrt er die befreiende Wirkung des Lachens nicht nur ins Gegenteil, sondern trifft damit den Kinobesucher bis tief ins Mark. Phoenix gelingt es, die Düsternis und Hoffnungslosigkeit anhand seiner Figur förmlich greifbar zu machen. Und da es in diesem Film kein moralisches oder emotionales Gegengewicht gibt, bleibt dem Zuschauer nichts anderes übrig, als alles ungeschönt mit Arthur zu durchleben.

„Geht es nur mir so, oder wird die Welt da draußen wirklich immer verrückter?“, fragt Arthur einmal. Fragen wie diese dürften sich auch heutzutage spätestens beim Blick in die täglichen Nachrichten einige gestellt haben: Kümmern wir uns genug um die Kranken, Schwachen und Zurückgelassenen? Warum werden die Reichen immer reicher. Und weshalb nimmt der große Rest Perspektivlosigkeit und Ausbeutung einfach hin? Gotham steht, eng angelehnt an das New York der frühen 80er Jahre, stellvertretend für die heutige Gesellschaft.

Und während um ihn herum niemand auf ihn blickt, sondern ihn höchstens mit Verachtung straft, scheint es fast so, als ob Fleck spürt, wie das Böse, das ihn im Moloch Gotham tagtäglich umgibt, in ihn hineinkriecht und ihn nach und nach vergiftet. Ob er will oder nicht. Es gibt schlichtweg nichts Gutes, was für ihn da ist oder ihm als Hoffnungsschimmer gegenübersteht. Batman ist zu jener Zeit eben noch ein Kind. 

Joker
Copyright 2019 Warner Bros. Entertainment Inc. All Rights Reserved. TM & © DC Comics / Niko Tavernise
Joaquin Phoenix

Während Ledgers Joker „die Welt einfach nur brennen sehen“ wollte, ist dieser Joker nun ein Produkt Gothams, also der Gesellschaft. Dass seine Entwicklung – inklusive der wenigen, dafür aber umso brutaleren Gewalttaten – immer wieder mit künstlerisch-tänzerisch anmutenden Einschlägen angereichert wird, erhöht das Unbehagen beim Zuschauer zusätzlich. Und so gelingt es Phoenix’ Joker wie nie zuvor, Sympathien, ja teils sogar Mitgefühl beim Publikum zu wecken. Und dieses Verständnis für einen Massenmörder ist es letztlich, was tief verstört.

In Kombination mit dem Umstand, dass die geschilderten gesellschaftlichen Zustände auf die heutige Zeit übertragbar sind, holt dies „Joker“ ganz nah an uns heran. Nicht umsonst hallt der Streifen nach dem Filmende noch einige Zeit nach und regt zum Nachdenken an. So sind die Diskussionen, die seit dem Kinostart vor allem in den USA rund um Handlung und vermeintlich glorifizierende (Gewalt-)Darstellungen in „Joker“ entbrannt sind, kaum überraschend.

Dass die übrigen Figuren neben dem dominanten Auftritt von Joaquin Phoenix eher solides Beiwerk sind, liegt in der Natur der Sache. 

Neben der erwähnten Ausnahmeperformance des Protagonisten gehören der Soundtrack samt Sounddesign, aber auch die Kameraarbeit und das atmosphärische und verkommene Retro-Setting zu den großen Stärken des Films. Dass sich Phillips in seinem Film stark an den Handlungen der Scorsese-Klassiker „Taxi Driver“ und „The King of Comedy“ orientiert, stört dabei keineswegs. Auch wenn er nie ganz die Klasse der beiden Ausnahmewerke erreicht. Leichte Einschläge von „V wie Vendetta“ oder „Falling down – ein ganz normaler Tag“ sind übrigens ebenfalls nicht von der Hand zu weisen. 

Dazu schafft Phillips einige richtig starke Szenen, die – mit und ohne metaphorisches Gerüst – ebenfalls lange im Gedächtnis bleiben. Die Bezüge zum Batman-Universum werden dabei in den meisten Teilen lediglich zart angedeutet. Hier bildet allerdings die legendäre und in den vergangenen Jahren in allen Batman-Verfilmungen immer wieder verfilmte Theaterszene mit Bruce Waynes Eltern leider eine unrühmliche Ausnahme. Diese hätte es schlichtweg nicht (schon wieder) gebraucht.

Ein weiteres Problem von „Joker“: Dass Gotham City hier ein Moloch voller Gewalt und fehlender Menschlichkeit, mit hoher Arbeitslosigkeit und einem riesigen Müllproblem sein soll, das kurz vor der Explosion steht, bleibt bis in die Schlussphase des Films hinein nur eine Behauptung. Es wird dauernd darüber erzählt, jedoch nie wirklich in entsprechenden Bildern gezeigt. Auch das Warum wird nicht genannt. Das erschwert es insgesamt ein wenig, diese Situation als gegeben hinzunehmen.  

Was dem Zuschauer allerdings gar nicht erschwert, sondern teilweise zu sehr auf dem Silbertablett präsentiert, ja beinahe schon aufgedrängt wird, sind nahezu alle Hintergründe. Nichts kann, darf, muss man sich selbst erschließen oder kann man selbst erkennen. Alle Erkenntnisse und Sachverhalte werden entweder von den Figuren erklärt, gesagt oder gar vorgelesen. Das Wie hätte man hier sicher ein wenig subtiler, cleverer und anspruchsvoller lösen können. David Fincher lässt grüßen.

Fazit: Auch wenn man hier und da das Gefühl hat, dass noch ein wenig mehr möglich gewesen wäre: Regisseur Todd Phillips ist mit „Joker“ ein intelligentes, psychologisch spannendes und grausam packend erzähltes Charakter-Drama gelungen, das bleibenden Eindruck hinterlässt. Und dafür zeichnet vor allem der grandios aufspielende Joaquin Phoenix verantwortlich, der den Film trägt und der Gesellschaft auf erschütternde Art und Weise den Spiegel vorhält. Und genau das macht den Film im Vergleich zum gewohnten Superhelden-Bombast besonders. Keine Frage: Die erste Origins-Story des Jokers hat in vielerlei Hinsicht eine absolute Daseinsberechtigung und ist ein ganz starkes Stück Kino.

4 von 5

Alle Fotos: Copyright 2019 Warner Bros. Entertainment Inc. All Rights Reserved. TM & © DC Comics / Niko Tavernise

Standardbild
Niklas Frielingsdorf
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