Wir trafen Madeleine Prahs auf der Frankfurter Buchmesse, um mit ihr über ihren Roman „Nachbarn“ zu sprechen.
Frau Prahs, vielen Dank, dass Sie Zeit für ein Interview mit uns haben.
DKB: Warum haben Sie gleich sechs Charaktere in Ihrem Buch statt nur einen Protagonisten gewählt? Als Laie glaubt man ja, dass eine Konstellation mit mehreren Figuren besonders schwer zu händeln ist. Ist das überhaupt so oder gibt es da keinen großen Unterschied?
MP: Der Roman „Nachbarn“ hat sich aus einer Kurzgeschichte entwickelt. Und in dieser Kurzgeschichte waren alle Figuren schon vorhanden bis auf das kleine Mädchen Marie. Es hört sich vielleicht ein bisschen seltsam an, aber nicht ich habe die Figuren gesucht, die Figuren haben mich gesucht. Im Laufe des Schreibprozesses wurden sie dann zu so etwas wie Mitbewohnern. Ich bin meinen Figuren also nie ausgekommen.
DKB: Bei mir kam vor allem die Frage auf, wie konnten Sie sich in den alten Rentner hineinversetzen? Das musste doch sehr schwierig gewesen sein.
MP: Mit dieser Figur habe ich tatsächlich lange gerungen. Fritzsche hat ja als Eisenbahner gearbeitet, im Zuge der Wende verliert er dann seinen Job, seine Frau stirbt – im Roman heißt es „Es war als hätte ihm einer ins Leben gespuckt, dieses eine Mal zuviel“. Mir war von Anfang an klar, dass dieser Fritzsche etwas Widerständiges haben muss, eine Art Trotz gegen die Zumutungen des Lebens, der Realität. Einer, der nicht alles hinnimmt und funktioniert, ein braver, lieber Rentner, sondern der sich wehrt, der rebelliert, gegen sich und andere. Man darf seinen Figuren nicht die Würde nehmen, also so eine Figur wie Fritzsche beispielsweise verniedlichen, das ist ein Solitär, der will einfach nur im Großen und Ganzen scheitern, sprich: endlich sterben, aber man lässt ihn ja nicht. Und dieses kleine Mädchen, auf das er dann trifft, schafft es irgendwie, einen Zugang zu ihm zu bekommen. Aber auch nur, weil sie wie er eine Außenseiterin ist.
DKB: Haben Sie eine Lieblingsfigur?
MP: Nein, ich habe versucht, die Figuren gleich zu behandeln und allen die gleiche Empathie entgegen zu bringen.
DKB: „Nachbarn“ ist ja ein einfacher Titel, aber ich finde ihn ein bisschen sophistisch. Wie sind Sie bzw. wann ist es zum Titel des Romans gekommen?
MP: Die Kurzgeschichte trug schon den Titel „Nachbarn“, und ich bin dem Verlag sehr dankbar, dass der Titel beibehalten wurde und auch im Zuge des Lektorats nicht geändert wurde. Die erste Assoziation, die man hat, bezieht sich auf die eigentliche Bedeutung des Wortes, also auf Personen, die primär in den angrenzenden oder nächstgelegenen Gebäuden bzw. Wohnungen wohnen. Für mich sind diese Figuren jedoch in einem ganz anderen Sinne „Nachbarn“, denn so unterschiedlich sie sind, sie bewohnen doch alle sehr ähnliche emotionale Räume.
DKB: Hat „Nachbarn“ auch etwas mit Ihrer Biographie zu tun?
MP: Natürlich ist dieser Roman durch meinen Blick geprägt. Und dieser Blick hat etwas mit meiner Entwicklung als Person und als Autorin zu tun. Aber es wäre zu einfach, Literatur nur auf die Biographie des Autors zu reduzieren. Schreiben ist ja das Behaupten einer Wirklichkeit. Ich behaupte, etwas könnte genauso stattgefunden haben, und das Mittel der Wahl ist hierbei das Erfinden. Aber diese Diskussion ist ja schon alt, und vielleicht ist es auch einfach sehr verführerisch, das Gelesene eins zu eins auf das Leben des Autors zu übertragen. Aber mein Leben würde sich nicht als Roman eignen, wäre viel zu langweilig (lacht).
DKB: Glauben Sie, dass die Wiedervereinigung nur gute Seiten hat?
MP: Da fällt mir die Antwort schwer, das kann ich nicht beantworten. Ein Roman kann ja keine soziologische Analyse bieten. Der Fall der Mauer und die gesellschaftlichen Umwälzungen, die nach 1989/1990 stattgefunden haben, haben vielen ehemaligen DDR Bürgern ganz neue Perspektiven eröffnet. Hier setzt mein Roman ein, ich schaue, wie entwickeln sich die Figuren, bis zu welchem Grad erfüllen sich ihre Hoffnungen, Träume und Wünsche – oder eben nicht. Aber „Nachbarn“ endet im Jahr 2006, und hier spielt es dann keine Rolle mehr, ob die Figuren aus Ost oder West kommen. Es geht um Themen wie Existenzangst oder Alterseinsamkeit, und es war mir von Anfang an sehr wichtig, diese Figuren auch mit den Problemen einer Gegenwart zu konfrontieren, insofern ist „Nachbarn“ für mich auch kein Wenderoman.
DKB: Die Wiedervereinigung hat auch Wunden geschlagen, wie im Roman an Hanna und Matthias deutlich wird. Glauben Sie, dass diese Wunden wieder geschlossen sind?
MP:Bei dieser Dreiergruppe steht der Verrat im Mittelpunkt. Die Studienfreunde Hans und Matthias verlieben sich in dieselbe Frau: Hanna. Im Zuge der Wende verlieren sich die Lebenswege dieser drei Figuren, der Verrat schließlich führt sie Jahre später wieder zusammen. Die ursprüngliche literarische Suchbewegung ging aber von der Figur des Hans aus. Er sitzt ganz zu Beginn des Romans in
einem Park in Bonn und beobachtet eine Familie, die offensichtlich aus der DDR geflüchtet ist. Es hat mich gereizt, dass für alle Figuren etwas Neues beginnt, nur für eine Figur geht etwas zu Ende. Plötzlich bricht in dieses Leben die Vergangenheit ein, und sie macht die Gegenwart zu einem sehr zerbrechlichen Konstrukt.
DKB: Das war sicherlich auch eine sehr lange Recherchearbeit. Die einzelnen Figuren des Romans sind auch so wunderbar beschrieben, wie z.B. Matthias, der erst als Bauzeichner, später dann
notgedrungen als Energieberater arbeitet.
MP: Mir war es beim Schreiben ganz wichtig, auch die Lebenswelten dieser Figuren zu erzählen. Ich glaube, Arbeit ist etwas Identitätsstiftendes, und ich wollte auch unbedingt zeigen, wie diese Figuren ihre Existenz bestreiten. Für die Figur der Anne beispielsweise habe ich lange Gespräche mit einer Altenpflegerin geführt, mir erklären lassen, wie ihr Alltag aussieht, für die Figur des
Fritzsche habe ich mit zum Beispiel mit Taxifahrern gesprochen und mit ehemaligen Eisenbahnern.
DKB: Wollten Sie eigentlich schon immer Schriftstellerin werden?
MP:Ich habe immer geschrieben, und ich habe mein ganzes Leben darauf ausgelegt zu schreiben, und wenn man sich dafür entscheidet, dann weiß man auch, dass die Wahrscheinlichkeit, damit reich zu werden, relativ gering ist. (lacht) Ich habe mich für diesen Weg entschieden, aber ich hatte keinen Drang, das anderen mitzuteilen. Wenn man mich jetzt fragt, was ich so mache, sage ich: „Ich bin Autorin.“ Schriftstellerin ist immer noch ein großes Wort, davor hab ich Respekt, ist vielleicht altmodisch, ist aber so.
DKB: Arbeiten Sie schon wieder an einem Buch?
MP: Es gibt eine Idee, da recherchiere ich gerade ein wenig, aber für das Schreiben an sich habe ich im Moment keine Konzentration. Es wird aber sicherlich bald wieder die Zeit kommen, in der es etwas ruhiger wird, in der ich wieder am Schreibtisch sitze, und darauf freue ich mich.
DKB: Frau Prahs, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch.
MP: Ich danke Ihnen auch.
Foto: Louis Volkmann