Nach der Einführung des Grand IFFMH Awards und der Rückkehr von Hommagen in das Festivalprogramm wirft das Internationale Filmfestival Mannheim-Heidelberg (IFFMH) auch im 71. Jahr seines Bestehens einen Blick auf die Größen der kontemporären Filmgeschichte und ehrt mit der französischen Regisseurin und Drehbuchautorin Alice Winocour sowie dem belgischen Kameramann Benoît Debie zwei der bedeutendsten Filmschaffenden unserer Zeit.
Grand IFFMH Award für Alice Winocour
Alice Winocour ist die diesjährige Preisträgerin des mit 10.000 Euro dotierten Grand IFFMH Award, mit dem das Festival die eindrücklichsten, stilprägendsten und innovativsten Filmemacherinnen der Gegenwart ehrt. Ihr in Zusammenarbeit mit Regisseurin Deniz Gamze Ergüven geschriebenes Skript zum Film ›Mustang‹ (2015) ist mit zahlreichen Auszeichnungen bedacht worden. ›Mustang‹ selbst war für den Oscar als bester fremdsprachiger Film nominiert. Winocours Regiearbeiten bestechen nicht zuletzt durch ihre Furchtlosigkeit, sich den Abgründen der Psyche zu stellen, um auf ihre eigene Weise nach der Wahrhaftigkeit der menschlichen Existenz zu fragen. Sie seziert ihre Protagonistinnen, fragt nach Sinn und Sinnlichkeit von Trauma und Leid und erschafft dadurch ihr Kino. Es ist ein Kino der Werte. So wirft sie in ihrem Debütfilm ›Augustine‹ (2012) ein Schlaglicht auf die chirurgische Kälte, mit der Männer einerseits auf den weiblichen Körper blicken und ihn andererseits sexualisieren.
Trotz ihrer noch relativ jungen Karriere hat Winocour bereits mit zahlreichen internationalen Schauspielstars gearbeitet: In ihrem Weltraum-Drama ›Proxima‹ (2019) inszeniert sie Eva Green als ambitionierte Astronautin, die mit der baldigen Trennung von ihrer jungen Tochter hadert; der Thriller ›Der Bodyguard‹ (2015) zeigt Matthias Schoenaerts bei seinem Kampf, sich nach einem Kriegseinsatz wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Auch Winocours neuester Film ›Paris Memories‹ (2022), der im Rahmen der Preisverleihung als Deutschlandpremiere zu sehen sein wird, ist das Porträt einer Traumatisierten und ihres Versuchs, diesem Trauma zu entkommen. Herausragend gespielt wird die Protagonistin dieses Films von einem der aktuell vielleicht größten weiblichen Stars des französischen Kinos, Virginie Efira, die hier auf Benoît Magimel trifft.
Hommage für Benoît Debie
Die Hommage 2022, mit der das Festival die langjährigen Verdienste herausragender Filmschaffender würdigt, wird Benoît Debie zuteil. Debies Bilder sind explosiv, intensiv, sinnlich – seine Kamera prägt das Kino der 2000er-Jahre. In ihrem Hang zum Exzess ist Debies Kamera agil und beweglich, vor allem aber ist sie sehr empathisch. Dabei hat er Stars wie Alicia Vikander, Charlotte Gainsbourg und James McAvoy ins rechte Licht gerückt. Joaquin Phoenix und Jake Gyllenhaal setzte er in Jacques Audiards Meta-Western ›The Sisters Brothers‹ in Szene. Und zusammen mit Ryan Gosling realisierte er dessen Regiedebüt ›Lost River‹. Debies Kino ist Kino im besten Sinn: ein Spektakel und eine Herausforderung von Sehgewohnheiten, mit einer großartigen Offenheit für alles, was uns Menschen ausmacht – unsere Begehren, unsere Ängste und unsere Träume.
Debies Wirken hat maßgeblich zur Karriere von Fabrice du Welz beigetragen, mit dem er neben ›Calvaire‹ (2004) und ›Colt 45‹ (2014) auch den Psychothriller ›Vinyan‹ (2008) umgesetzt hat, in dem Debies Bilder einen betörenden Trip zwischen europäischer Fantasie und südostasiatischer Geister-Wirklichkeit erschaffen. In ›Spring Breakers‹ (2012), einer seiner Arbeiten für den amerikanischen Regisseur Harmony Korine, zelebriert Debie die bombastische Party- und Gewalt-Ästhetik der US-Jugend und konstruiert so eine fundamentale Medienkritik. Seit dessen zweitem Langfilm ›Irreversible‹ (2002) ist Debie verantwortlich für die extremen Bildwelten Gaspar Noés und hat wie kein Zweiter zu dessen filmischer Sprache beigetragen. In ›Love 3D‹ (2015) gelingt es Debie, die Sinnlichkeit und überraschende Komik hinter Noés autobiographisch gefärbtem Film auf die Leinwand zu transportieren. Auch seine Arbeiten an den Musikvideos diverser Stars wie Rihanna, Beyoncé, Jay-Z, Thirty Seconds to Mars und Travis Scott sind in jeder Hinsicht ikonische Bilder unserer Zeit. ›Vinyan‹, ›Spring Breakers‹ und ›Love 3D‹ sind im Rahmen der Hommage beim diesjährigen IFFMH nochmals zu erleben.
Sowohl Alice Winocour als auch Benoît Debie werden zum Festival anreisen und dem Publikum in für alle Interessierten offenen Gesprächen (Masterclasses) Auskunft über ihr Schaffen geben.
Das 71. Internationales Filmfestival Mannheim-Heidelberg findet vom 17. bis zum 27. November statt