François Truffaut: Das sanfte Genie

Er gilt als Begründer der Nouvelle Vague, war aber auch ein Kind des amerikanischen Kinos: François Truffaut. Heute wäre der französische Regisseur, Filmkritiker, Essayist und Gelegenheitsschauspieler in seinen eigenen und in fremden Produktionen 90 Jahre alt geworden.

Amerika mit all seinen Verheißungen und Exzessen hat den Franzosen schon immer berauscht. Sechs seiner 25 Spielfilme, bei denen er Regie führte, basieren auf Werken amerikanischer Autoren, von Cornell Woolrich („Die Braut trug Schwarz“) bis Henry James („Das grüne Zimmer“). Und doch sind sie in ihrer Atmosphäre und ihren Obsessionen unverkennbar französisch. Truffauts große Leistung bestand auch darin, die bipolaren Strömungen dieser beiden Kulturen mit einer einzigartigen Leichtigkeit und Lebendigkeit zu versöhnen.

Zu seinen am meisten geschätzten Vorbildern in der Regie gehörten der Amerikaner Alfred Hitchcock ebenso wie der Franzose Jean Renoir. Seine eigenen Filme waren von der Spannung zwischen Hitchcocks Kunst der Manipulation und Renoirs scharfsichtigem Humanismus geprägt.

1973 drehte Truffaut „Die amerikanische Nacht“, eine ironische Hommage an das Filmemachen, in der er selbst einen Regisseur spielt. Es war eine merkwürdige, traurige Fügung des Schicksals, dass er in einem amerikanischen Krankenhaus in Paris im Oktober 1984 seinem Krebsleiden erlag.

Schwierige Kindheit

Truffauts Leben beginnt in der Rebellion. Am 6. Februar 1932 wird er als uneheliches Kind einer 19-jährigen Mutter geboren und verlebt eine schwierige, unruhige Kindheit. Bis zu seinem zehnten Lebensjahr wächst er bei seiner Großmutter auf. Als diese stirbt, nimmt ihn die Mutter, die inzwischen geheiratet hat, notgedrungen bei sich auf. Dass der neue Mann an der Seite seiner Mutter sein Adoptivvater ist, erfährt erst viel später. In seinem Elternhaus fühlt sich Truffaut unerwünscht. Vor allem die Mutter erlebt er als eine distanzierte, kalte Person. Wann immer möglich, verbringt er deshalb seine Zeit außerhalb des Hauses, wo er wegen Diebstähle und Schulschwänzen immer wieder in Schwierigkeiten gerät. Zeitweise stecken ihn seine Eltern in ein Erziehungsheim. Seine unglückliche Kindheit wird er später in vielen seiner Filme verarbeiten, vor allem in seinem Debüt „Sie küssten und sie schlugen ihn“ und „Der Wolfsjunge“.

Kino als Zufluchtsort

Kinos bieten dem Halbwüchsigen, der mit vierzehn die Schule abbricht, eine Art Zuflucht, die zu seinem Klassenzimmer wird. Hier sieht und studiert er die Filme von John Ford, Howard Hawks, Alfred Hitchcock und anderer Regisseure, die nach 1945 die Pariser Kinos überschwemmen..  Außerdem liest er sich wie besessen durch die Klassiker der französischen Literatur. Vor allem die Werke von Balzac faszinieren ihn. Mit sechzehn Jahren gründet Truffaut seinen eigenen Filmklub, lernt den renommierten, vierzehn Jahre älteren Filmkritiker André Bazin kennen, der sein Mentor und Ersatzvater zugleich wird. Bazin hilft ihm auch immer wieder aus verschiedenen rechtlichen und finanziellen Problemen heraus, vor allem als Truffaut aus der Armee desertiert und ins Gefängnis kommt. Bazin erwirkt Truffauts Freilassung, indem er ihm eine Stelle bei dem noch jungen Filmmagazin „Cahiers du Cinema“ verschafft, einer Zeitschrift, die die Filmkritik neu erfinden und zur einflussreichsten theoretischen Stimme des 20. Jahrhunderts werden sollte.

Vom Rebellen zum gefürchteten Filmkritiker

Für die „Cahiers“ verfasst Truffaut  mehr als 170 Beiträge. Viele davon sind zornige Kritiken, die die Werke der Filmemacher der alten Garde verreißen, ihm den Spitznamen „Totengräber des französischen Kinos“ und die Verweigerung der Akkreditierung bei den Filmfestspielen in Cannes einbringen. 

Als Autorenfilmer hinter der Kamera

1956 wird er Assistent bei Roberto Rossellini, dem Wegbereiter des italienischen Neorealismus. Zwei Jahre später, mit gerade einmal 26 Jahren, führt er bei „Sie küssten und sie schlugen ihn“ Regie, hilft die Nouvelle Vague zu etablieren und führt zusammen mit seinen Kollegen Jean-Luc Godard, Alain Resnais und anderen den Film in das Zeitalter der Moderne. Fortan sollten Filme nicht mehr steif inszenierte, im Studio produzierte  Literaturverfilmungen mit zumeist vorhersehbaren Handlungen sein, sondern eigene Kino-Geschichten erzählen und sich als Kunstform sui generis behaupten.

Hierzu bedienen sich Truffaut und seine Kollegen einer neuen Filmästhetik. Die Zeit konnte gedehnt oder angehalten werden wie in „Jules und Jim“; die Erzählung konnte für eigenwillige Selbstreferenzen unterbrochen werden, bei denen sich die Figur an den Zuschauer wendet wie im Film „Schießen Sie auf den Pianisten“, wo der Protagonist die nackten Brüste seiner Bettgefährtin bedeckt, „weil man so etwas im Film nicht zeigt“; der Film konnte das saubere Happy End des traditionellen Kinos für eine in Unentschlossenheit erstarrte Figur aufgeben, die mehrere Deutungen zulässt, wie in „Sie küssten und sie schlugen ihn“.

Mit diesen ersten drei Filmen trug Truffaut wesentlich dazu bei, eine neue Grammatik für das Vokabular des internationalen Kinos zu schaffen, die bis in die Gegenwart fortwirkt. Die Regiearbeiten von George Lucas, Steven Spielberg, Francis Ford Coppola, Robert Altman, John Cassavetes und Martin Scorsese sind in hohem Maße vom europäischen Kunstfilm der 1960er-Jahre beeinflusst, den Truffaut entscheidend mit schuf. Heute ist sein Einfluss vor allem in der Welt des Indie-Films zu spüren, der viele Merkmale der Nouvelle Vague wie improvisierte Dialoge, Laienschauspieler, jump cuts, Dreharbeiten vor Ort, natürliches Licht und Handkameras verwendet.

Einfühlsamer Humanist und Anwalt der Kinder

Wäre Truffaut nur die Summe seiner formalen Innovationen, wäre er wohl zu einer Fußnote der Filmgeschichte geworden. Dem ist nicht so. In seinen Filmen gab es echte Menschen, Menschen, die von etwas Zwingenderem als einer bloßen Genrekonvention zu emotionalen Extremen getrieben wurden.

Die beiden Engländerinnen in „Zwei Mädchen aus Wales und die Liebe zum Kontinent“, die tödlich in denselben Franzosen verliebt sind; die junge Frau in „Die Geschichte der Adele H.“, deren unerwiderte Leidenschaft sich in selbstmörderische Ekstase verwandelt; der Wissenschaftler, in „Der Mann, der die Frauen liebte“, der an einer unstillbaren Hypersexualität leidet – sie alle wurden von Truffaut mit zutiefst humanem, einfühlsamen Blick eingefangen.

Wenngleich die Liebe in ihren vielfältigen Spielarten die Triebkraft der Geschichten und Figuren in vielen seiner Filme ist, Kinder schienen jedoch dem Herzen dieses sanften Genies am nächsten zu stehen. In „Taschengeld“ stürzt ein Dreijähriger aus einem hohen Fenster und überlebt – ein Geschenk des Lebens, das Truffaut ihm machte. „Kinder befinden sich in einem Zustand der Gnade“, sagte er in einem Interview 1976. Das war er 52 Jahre lang auch. Der Beweis dafür ist auf der Leinwand zu sehen.

Titelbild: Screenshot: https://letterboxd.com/director/francois-truffaut/

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Hans Kaltwasser
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