Für Lilo sind die Sonntage jedes Mal mit einem mulmigen Gefühl verbunden, wenn sie diese Tage mit ihrer Mutter verbringt. Seit der Trennung von ihrem Mann ist die Mutter noch verspannter und verschlossener geworden. Sie lässt Lilo nicht näher an sich heran, und über ihren familiären Hintergrund gibt sie so viel wie gar nichts preis.
Lilo ist daher froh, ihr Leben selbstständig als erfolgreiche Goldschmiedin und Single führen zu können. Als sie einen Brief für ihre Mutter zur Post bringen will, fällt ihr der Name des Adressaten auf – Mark Steiner, der Cousin ihrer Mutter. Sie wird neugierig und entschließt sich, den Brief persönlich dort abzugeben. Vielleicht lernt sie endlich einen Verwandten näher kennen und erfährt etwas zur Familie ihrer Mutter. Doch das Zusammentreffen ist sehr ernüchternd, der Cousin ein griesgrämiger und barscher Mensch. An allem Unglück soll ihre Großmutter Agnes schuld sein, die angeblich auch das Leben ihrer Mutter zerstört haben soll.
Agnes ist zweisprachig aufgewachsen, da die Familie ursprünglich aus Straßburg kommt. Nach dem Ersten Weltkrieg jedoch mussten sie das Elsass verlassen. Die Familie lebte fortan in Rastatt. Im Zweiten Weltkrieg verlor Agnes ihre gesamte Familie und hatte niemanden und nichts mehr. Sie erhielt eine Unterkunft bei einer Familie Steiner, doch es fiel Agnes schwer, sich dort wohlzufühlen. Das Gefühl, nur geduldet zu werden, verließ sie nie. Auch als sie den ältesten Sohn Walter näher kennenlernt und ihn schließlich heiratet. Lange Jahre bleibt er in Kriegsgefangenschaft und kommt traumatisiert zurück.
Und anders als Agnes sich das gewünscht hat, ist das Eheleben schwierig. Walter verhält sich autoritär und abweisend. Mittlerweile hat Agnes eine Arbeit bei der französischen Besatzungsverwaltung gefunden. Sie ist glücklich darüber, denn hier erfährt sie Anerkennung und fühlt sich frei. Sie verliebt sich in einen französischen Offizier, doch die Beziehung ist nicht von langer Dauer. Als sie von Walter schwanger wird, hat sie ihre Ehe längst abgeschrieben. Agnes möchte sich scheiden lassen, doch als Frau hat sie keinerlei Rechte und müsste auf ihre Tochter verzichten. Dann erfährt sie etwas über Walters Kriegseinsatz, das sie nutzen könnte, um ihre Freiheit zu bekommen. Sie ringt mit ihrem Gewissen, ob sie Walter denunzieren oder sich in ihr Schicksal fügen soll.
Nicht selten werden Familien, die Kriege erlebt haben, von schrecklichen Geschehnissen, nicht offengelegten Ereignissen und Konflikten verstört und oftmals auch zerstört. Sogar die nächste Generation kann davon betroffen sein, wie der bewegende Roman der Autorin Valerie Jakob eindringlich erzählt. „Frag nicht nach Agnes“ reflektiert Gegebenheiten, die, obwohl in einer grausam großen Anzahl geschehen, so in keinem Geschichtsbuch zu finden sind. Leser*innen werden sie deshalb ganz besonders intensiv empfinden und im Gedächtnis behalten.
Frag nicht nach Agnes
Autorin: Valerie Jakob
Verlag: Kindler
ISBN: 978-3-463-00058-9
416 Seiten