Religion stillt bei Sigmund Freud den infantilen Wunsch nach einer Vaterfigur und nach Schutz, der von der Religion gewährt werden kann. Sie ist Teil der Kultur und unterscheidet uns von anderen Lebewesen. Der Arzt und Erfinder der Psychoanalyse gab auch im Angesicht seines nahen Todes diese Sichtweise nicht auf. Der Film „Freud – Jenseits des Glaubens“ beginnt am 3. September 1939, als Hitler den Zweiten Weltkrieg angezettelt hat.
Gerade noch rechtzeitig ist es Freud (ANTHONY HOPKINS) und seiner Tochter Anna Freud (LIV LISA FRIES) gelungen, Wien zu verlassen und vor den Nazis nach London zu flüchten. Ohne seine Tochter Anna, die mittlerweile selbst als Psychoanalytikerin arbeitet und ihn bedingungslos unterstützt, wäre er nicht in der Lage, sein Leben zu führen, das von starken Schmerzen bestimmt ist. Sie rühren von einem Tumor im Gaumen her. Auch an diesem Tag sind sie wieder einmal unerträglich. Er muss Anna bitten, die Vorlesung, die sie vor Studenten hält, zu unterbrechen und seine Medikamente zu besorgen.
Eine nicht alltägliche Begegnung
Freud wird an diesem Tag von C.S. Lewis (MATTHEW GOODE) besucht, Gelehrter am College der University of Oxford, der später mit „Die Chroniken von Narnia“ Weltruhm erlangen wird. Zwei unterschiedliche Auffassungen über Liebe, Religion und Tod treffen nun aufeinander, während zunächst die Kamera über eine Reihe von Madonnenskulpturen, kleine Gottheiten aus anderen Kulturen und ein Jesus-Antlitz fährt. Die Ansicht täuscht eine gewisse Religiosität vor, die Freud nicht besitzt, vielmehr betrachtet er sie als ein kulturelles Erbe, das Zivilisation ausdrückt.
Kindheitserinnerungen und Träume, die bei Freud eine Tür zum Unbewussten öffnen, machen einen bedeutsamen Teil seiner Psychoanalyse aus. Und als die Radionachrichten beendet sind, die weitere alarmierende Informationen über den Kriegsbeginn melden, verweilen die Gesprächspartner bei ihren Kindheitserinnerungen und Vater-Beziehungen, der Zukunft der Menschheit, die in jener Zeit vom Krieg überschattet wird.
Der Film zeigt berührende Sequenzen aus Freuds Erinnerungen, der auf eine christliche Erziehung blicken konnte, während sein Vater jedoch jüdischen Glaubens war. Und Lewis‘ Fantasiewelt, die von seinem Bruder handelt und gotische Waldbilder vor den Augen der Zuschauer*innen aufleben lässt. Auch erotisch gefärbte Halluzinationen aus Freuds Unbewusstem tauchen auf. Der Regisseur flieht so aus der Enge des Freud’schen Behandlungszimmers in filmisch schillernde Episoden.
Die beiden Gelehrten haben nur wenig Zeit, werden vom Alarm in einen Schutzbunker getrieben und entdecken ihre Traumata, die bei Lewis von seinen Kriegserlebnissen aus dem ersten Weltkrieg herrühren. Freud landet auf der Couch, die eigentlich nur für seine Patienten vorgesehen ist. Und lässt sich zeitweise von Lewis in die Enge treiben. War es ethisch gerechtfertigt, seine Tochter Anna zu analysieren?
Die alles entscheidende Frage ist, ob es einen Gott gibt oder nur den Glauben daran? Bei Freud gibt es keine Zweifel. Und die plausiblen Argumente des gläubigen Lewis ändern nichts daran: Freud glaubt an die Wissenschaft und C.W. Lewis an Gott. Es gibt keine gemeinsame Antwort, vielmehr gehen beide aus diesem Diskurs gestärkt hervor, ohne den anderen verletzt zu haben.
Einen Tag im Leben eines Wissenschaftlers im Dialog mit einem anderen Denker und Gelehrten filmisch dramatisch darzustellen, ist eine Herausforderung. Dem Regisseur MATTHEW BROWN gelingt auf der Basis des Bühnenstücks von Mark St. Germain „FREUD’S LAST SESSION“ ein filmisches Kleinod, das Intellekt und Gefühle gleichermaßen anspricht und die Zuschauer*innen berührt und nachdenklich zurücklässt.
Daran haben die Schauspieler einen erheblichen Anteil, insbesondere der grandiose ANTHONY HOPKINS als Sigmund Freud, MATTHEW GOODE spielt authentisch C.S. LEWIS und LIV LISA FRIES überzeugt in der Rolle der Anna Freud. Ein fantastisches und ungewöhnliches Kinoerlebnis.
Am 19. Dezember im Kino zu sehen.
Fotos: (c) X-Verleih