Filmfest-München 2015 überschreitet Grenzen

Ob geographisch-politisch, persönlich oder formal-ästhetisch: Beschränkungen werden durchbrochen, neues Terrain betreten. Das Filmfest erweitert Horizonte und zeigt Produktionen aus filmisch bislang wenig bekannten Regionen. Darunter „God Loves the Fighter“ (Spotlight), Trinidads Antwort auf „City of God“, der vom harten Leben in den Problemvierteln der Hafenmetropole Port-of-Spain erzählt. Aus Jordanien kommt „Theeb“ (CineVision), ein bildgewaltiges Wüsten-Epos, und aus Vietnam „The Inseminator“ (International Independents), in dem eine junge Filmemacherin jahrhundertealte gesellschaftliche Tabus bricht – ihr Film wurde deshalb in ihrer Heimat verboten.

Grenzerfahrungen macht auch Viggo Mortensen als Held des Eröffnungsfilms „Den Menschen so fern“ (CineMasters). Er spielt hier einen zwischen den Kulturen wandelnden französischstämmigen Lehrer in Algerien zur Zeit des Bürgerkriegs in den frühen 1950er Jahren. „Mediterranea“ (International Independents) greift ein brandaktuelles Thema auf und erzählt die Geschichte afrikanischer Flüchtlinge, die die lebensgefährliche Reise über das Mittelmeer wagen, getrieben von der Hoffnung auf ein bessere Leben in Europa.

Für die lustvolle Überschreitung ästhetischer Grenzen sind die Arthouse-Regisseure zuständig. Sie bedienen sich gekonnt der Stilelemente aus dem Genrekino, was etwa bei „Slow West“ aus Großbritannien (CineVision), „The Taking of Tiger Mountain“ (3D) aus China (Spotlight) oder den deutschen Produktionen „Der Nachtmahr“ und „Boy 7“ (Neues Deutsches Kino) demonstriert wird.

Auf zu neuen Ufern

Zu den Filmregionen, die darauf warten, entdeckt zu werden, gehört auch die Karibik. Dank der erschwinglichen digitalen Technik gelingt es immer mehr jungen unabhängigen Filmemachern, ihre Geschichten zu erzählen. Dadurch entstehen so interessante Filme wie „La obra del siglo“ (International Independents), der seine Geschichte semidokumentarisch in der Ciudad Electro Nuclear erzählt, einer im Rohbau stehengebliebenen Kernkraftwerksstadt, die einst Vorzeigeprojekt der Kubanischen Revolution war. Aus der Dominikanischen Republik kommt „Dólares de arena“ (Spotlight), eine Liebesgeschichte zwischen einer jungen Einheimischen und einer älteren Europäerin, gespielt von Geraldine Chaplin.

Brennende Themen

Am Puls der Zeit sind auch die zahlreichen Filme aus dem arabischen Raum, die zeigen, was nach den politischen und sozialen Umwälzungen vom Arabischen Frühling übriggeblieben ist. Heiß diskutiert wird bereits über „Much Loved“ (International Independents), der ungewöhnlich offen von vier jungen Prostituierten in Marrakesch erzählt – und dafür in Marokko auf den Index kam. Ein ganz anderes Bild der jungen Araber, als wir es aus den Medien kennen, zeichnet auch „Yallah! Underground“ (International Independents), ein Dokumentarfilm über die Subkultur in den arabischen Ländern.

Überhaupt sind Dokumentarfilme auf dem diesjährigen Filmfest prominent vertreten. Nicht wenige widmen sich politisch brisanten Themen. So porträtiert der oscarprämierte Regisseur Alex Gibney in „Going Clear: Scientology and the Prison of Belief“ (Spotlight) die Praktiken der Scientology-Sekte. „Mollath – Und plötzlich bist du verrückt“ (Neues Deutsches Kino) rollt den Justizskandal um den in die Psychiatrie abgeschobenen Gustl Mollath auf, während sich „The Great Invisible“ (International Independents) mit der Katastrophe der explodierten Ölbohrinsel Deepwater Horizon beschäftigt und „How to Change the World“ (Spotlight) Bob Hunter ein filmisches Denkmal setzt, dem Vorreiter und Mitbegründer von Greenpeace.

Komödien mit Starbesetzung

Das Filmfest kann in diesem Jahr mit einer ungewöhnlich große Anzahl von Komödien aufwarten: Vom herrlich durchgeknallten „Men & Chicken“ (Spotlight) mit Mads Mikkelsen und Nikolaj Lie Kaas bis zur schon in Sundance stürmisch gefeierten afro-amerikanischen Teen Comedy „Dope“ (Spotlight) reicht das Spektrum. Auch zwei große New Yorker Komödien-Spezialisten sind mit ihren starbesetzten neuen Filmen dabei: Peter Bogdanovich mit der Screwball-Comedy „Broadway Therapy“ (Spotlight) und Noah Baumbach mit der Beziehungs-Tragikomödie „Gefühlt Mitte Zwanzig“ (Spotlight).

Die Wettbewerbsreihen

Das FILMFEST MÜNCHEN präsentiert auch in diesem Jahr seine beiden internationalen Wettbewerbsreihen: Elf Filmemacher gehen mit ihren ersten oder zweiten Filmen ins Rennen um den CineVision Award (12.000 Euro), der von Wild Bunch Germany gestiftet wird. Bei den CineMasters wiederum konkurrieren die zehn besten internationalen Filme des Festivaljahrgangs um den ARRI/OSRAM Award (50.000 Euro). Diesmal sind u.a. Miguel Gomes, Abel Ferrara, Joachim Trier, Arnaud Desplechin und Kiyhoshi Kurosawa mit ihren neuen Filmen dabei. Komplettiert wird das internationale Festivalprogramm von den Reihen Spotlight und International Independents.

Ehrengäste & Besondere Premieren

Das Filmfest zeichnet in diesem Jahr gleich zwei herausragende Filmschaffende mit seinem Ehrenpreis, dem CineMerit Award, aus und widmet Rupert Everett und Jean-Jacques Annaud je eine Hommage. Der Jahrhundertkünstler Andy Warhol – auch er ein Grenzgänger par excellence – wird in der großen, gemeinsam mit dem Museum Brandhorst veranstalteten Hommage Yes!Yes!Yes! Warholmania in Munich gefeiert.

Die Retrospektive des Filmfests ehrt den US-Regisseur Alexander Payne. In der Sektion Lights! Camera! Action! werden neben neuen Dokumentarfilmen über Filmemacher und übers Filmemachen auch der frisch restaurierte Director’s Cut einer „Tatort“-Folge des legendären Hollywood-Regisseurs Sam Fuller gezeigt sowie ein Special zum 30. Todestag des Filmfest-Initiators Joe Hembus. Das Open Air Kino dreht sich in diesem Jahr um das Thema Swing.

Der Dokumentarfilm Amy von Asif Kapadia erzählt eine Geschichte von Aufstieg und Fall, von Exzess und Selbstzerstörung, von Showbiz und Drogenmissbrauch. Es ist die Geschichte der Sängerin Amy Winehouse, eine wahre Geschichte mit katastrophischem Ausgang: 27-jährig starb die Sängerin auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs an einer Alkoholvergiftung. Mit klug recherchiertem und sensibel ausgewähltem Archivmaterial porträtiert Kapadia eine so schillernde wie verletzliche Persönlichkeit.

Insgesamt werden an zehn Tagen insgesamt 179 aktuelle Filme aus 54 Ländern, die alle als Deutschlandpremiere laufen, 39 davon feiern hier ihre Weltpremiere und acht weitere ihre internationale bzw. europäische Premiere gezeigt.

33. FILMFEST MÜNCHEN (25. Juni bis 4. Juli 2015)

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Ingrid
Kunst und Kultur, Musik und Bücher, ohne sie ist ein Leben denkbar, aber für mich sinnlos. Darum habe ich diesen Blog ins Leben gerufen. Es macht viel Spaß, ihn zu gestalten - ich hoffe, den Usern, ihn zu lesen. Nicht alles, was gedruckt wird, muss gelesen, nicht jedes Album gehört werden. Was die User hier finden, gefällt mir und den Gastautoren, die ab und zu Lust haben, etwas zu schreiben.
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