Das, was uns als Menschen ausmacht und wie wir über uns denken, hat sich, seit es menschliches Leben gibt, stetig geändert. Besaßen die Menschen, als sie noch nicht sesshaft waren, ein überschaubares Anschauungsmaterial dazu, denn ihr Bestreben galt dem Überleben und der Fortpflanzung, so sind wir heute an einem Punkt, der uns in computerbasiertes Wissen und Vorstellungen eintauchen lässt, die virtuell erzeugt und vorangetrieben werden. Unsere Identitäten insgesamt sind fluider geworden. Doch zweierlei ist im binären Zeitalter immer noch ungelöst geblieben. Und obwohl es regelmäßig und mit wenigen Ausnahmen biologisch zwei Geschlechter gibt, die beide wie der Computer basierte binäre Code unersetzlich und gleichberechtigt sind, bleibt die gesellschaftliche Gleichberechtigung der Frau noch höchst lückenhaft. Das Buch „FEMINISMUS“ der Autorin Agnes Imhof stellt klar, solange es das Patriarchat gibt, so lange gibt es auch den Kampf dagegen.
Mit der Sesshaftwerdung des Menschen sind Frauen dem Mann nicht gleichgestellt. Mann und Frau teilen sich nicht mehr die für das Überleben notwendige Arbeit. Die Autorin nennt verschiedene Gründe, die dem Patriarchat schließlich Stabilität gaben und seinen Bestand bis zum heutigen Tag in verschiedenen Regionen und Ländern der Erde sicherten. Zudem setzt die Autorin die Feminismus-Debatte in einen eigentlich naheliegenden Bezugsrahmen, den der Menschenrechte. Mithin ist dieser die älteste Menschenrechtsbewegung der Welt.
Leser*innen, die sich für Frauenfragen und Frauengleichberechtigung interessieren, kennen wahrscheinlich die wichtigsten Vertreterinnen und Vorkämpferinnen für die Rechte der Frauen wie Emmeline Pankhurst, Clara Zetkin, Hedwig Dohm, Kate Millet, Betty Friedan und Simone de Beauvoir bis hin zu zeitgenössischen Feministinnen wie Chimamanda Ngozi Adichie und Rebecca Solnit. All diesen Frauen war klar, dass die Erfindung der sozialen Ungleichheit durch das Patriarchat entstanden ist. Die vielen Frauen, die für die Gleichberechtigung gekämpft haben, vertreten jedoch unterschiedliche Positionen und Wege, die zum Ziel führen sollen.
Das Buch „Feminismus“ gibt einen analytischen Überblick dazu und beleuchtet die bürgerlichen und proletarischen Bewegungen ebenso wie die antikolonialen Frauenbewegungen in Afrika und Lateinamerika sowie Positionen von Frauenrechtlerinnen der islamischen Welt. Und zeigt auf, welche wissenschaftlichen Ansätze aus der Philosophie, Religion und Soziologie hilfreiche Beiträge geliefert haben und welche in keiner Weise für die Feminismusbewegung nützlich waren. Aber auch der ganz normale Mann mit seinen herkömmlichen Geschlechterstereotypen kommt zu Wort, der nicht wahrhaben will, dass eine Pilotin ihn sicher und kompetent vom Himmel auf die Erde zurückbringen kann. Solange also noch solche antiquierten Ideen und Gedanken in den Köpfen von Männern herumspuken, solange wird der Kampf wohl noch weitergehen müssen..
Ein sehr eindrucksvolles, vielfältiges und wertvolles Buch, das längst vergessene Stimmen von Frauen wieder aufgreift und gegenwärtige im neuen Licht erscheinen lässt. Eine Bestandsaufnahme und ein Blick in die Zukunft – sehr empfehlenswert für Leser und Leserinnen.
Agnes Imhof – Feminismus
Erscheinungstag: 15.05.2024
ISBN: 978-3-8321-6827-8
Verlag: Dumont
AGNES IMHOF
AGNES IMHOF, geboren 1973 in München, studierte Philosophie und promovierte in Islam- und Religionswissenschaften. Sie spricht unter anderem Arabisch, Persisch und Italienisch und ist in klassischem Gesang ausgebildet. Sie ist freie Publizistin mit Sachbuch- und Romanpublikationen. Seit 2016 lehrt sie an der FAU Erlangen und hält Lehrveranstaltungen an den Universitäten Bamberg, München (LMU), Göttingen, Erlangen und Würzburg.