Im Jahr 400 n. Chr. lebten mehr als 700.000 Menschen in Rom, einer Stadt mit 28 Bibliotheken, 2 Zirkusarenen, 856 öffentlichen Bädern, 19 Äquädukten, 290 Kornspeichern, 254 Bäckereien, 179 repräsentativen Stadthäusern und 47.000 Wohnblöcken mit Mietshäusern. Es war die größte Stadt der damaligen Welt, das Kronjuwel eines gewaltigen Imperiums, das das Leben eines Viertels der Weltbevölkerung kontrollierte. Und doch war dieses erstaunlich erfolgreiche Weltreich innerhalb weniger Jahrzehnten zusammengebrochen, und in Rom lebten nur noch 20.000 Menschen.
Nur wenige Themen haben die Historiker seit Jahrhunderten inspiriert und frustriert wie der Niedergang, die Auflösung und der endgültige Zusammenbruch des Römischen Reiches. Als Erklärung wurden Korruption, das Christentum, die Invasion von Barbaren und Hunderte anderer Faktoren angenommen.
Kyle Harper, Althistoriker an der Universität von Oklahoma, bietet in seinem neuen Buch FATUM. Das Klima und der Untergang des Römischen Reiches eine eindrucksvolle Neuinterpretation mit beunruhigenden Parallelen zur Gegenwart an. Das antike Rom sei, so seine Kernthese, einer Folge von katastrophalen Epidemien in Kombination einer globalen Abkühlung erlegen.
Dass Rom von einem unbedeutenden Dorf am Tiber, das lange im Schatten der Etrusker und seiner mediterranen Gegenspieler stand, zu einer Supermacht mit 70 Millionen Menschen aufstieg, war, wie Harper schreibt, vor allem einer günstigen klimatischen Konstellation, dem römischen Klimaoptimum geschuldet. Mit seinen feucht-warmen Frühjahren und heißen und trockenen Sommern sorgte es für die Ausdehnung der Landwirtschaft und reiche Ernten, so dass die Versorgung der auf 75 Millionen Menschen angewachsenen Bevölkerung kein Problem darstellte.
Auch die Städte wuchsen. Rom zählte bald eine Million, Städte wie Karthago, Alexandria und Antiochia mehrere hunderttausend Einwohner. Etwa Mitte des 2. Jahrhundert endete das Klimaoptimum, die Wärmeperioden wurden seltener, die landwirtschaftlich nutzbaren Flächen nahmen ab, die Ernteerträge gingen zurück. Pandemien und natürliche, durch Vulkanausbrüche verursachte Klimaanomalien schickten das Imperium in eine Abwärtsspirale.
Auch wegen der gut ausgebauten Straßen konnten sich zudem Infektionskrankheiten und verheerende Epidemien rasch verbreiten. Pest, Klimawandel und Krieg machten ein ganzes Jahrtausend materieller und kultureller Fortschritte zunichte.
Die dreiteilige klimahistorische Konstruktion, die Harpers Thesen zugrunde liegt, d.h. römisches Klimaoptimum, spätrömische Übergangszeit und Kleine Eiszeit der Spätantike, ist keine Spekulation, sondern wird durch die moderne Klimaforschung der Spätantike und durch eine Fülle von Daten aus den „natürlichen Archiven“ (u.a. Eisbohrkerne, Baumringe und genomische Beweise) untermauert. Auch die Auswirkungen der drei großen Epidemien, die das Imperium überfielen, und vor allem die Justinianische Pest, die ab Mitte des 6. Jahrhundert wütete und zum Zusammenbruch des oströmischen Reichs führte, waren wohl verheerender als bis noch vor wenigen Jahren angenommen.
Ansätzen, die auf eine Trennung von Krankheitsfaktoren und Klimaeinflüssen beharren, erteilt Harper dabei eine klare Absage. Für ihn befinden und verstärken sich Krankheitsökologie, Klimaextreme und menschliches Handeln unlösbar in einem endlosen Kreislauf:
- Die globale Vernetzung des Römischen Reiches durch den Ausbau von Handelsstraßen weit über den mediterranen Raum und Nordeuropa hinaus gehörte zu den erstaunlichen historischen Großtaten der Römer, begünstigte jedoch das Einschleppen von Seuchen entlang den gut ausgebauten Routen und ihre explosionsartige Ausbreitung in den Metropolen.
- Die zunehmende Urbanisierung der Gesellschaft, die Metropolen mit mehreren Hunderttausende Einwohnen schufen, erforderte den Bau riesiger Getreidespeicher, um die rapide anwachsende Bevölkerung zu ernähren, führte jedoch zur Vermehrung der Ratten, die den Erregern der Epidemien als Wirte dienten.
Kurzum: Indem Harper die Faktoren Mensch, Krankheit und Klima so untrennbar miteinander verbunden sieht, klammert er die traditionellen Narrative der Geschichtswissenschaft nicht aus, sondern konkretisiert sie. Vor diesem Hintergrund ist es einfacher, die Anfälligkeit des Imperiums für Invasionen, wirtschaftliche Schwierigkeiten und innere Spaltungen zu verstehen. Harpers Absicht ist es also nicht, die Handlungsfähigkeit des Menschen zu leugnen, sondern sie als eine Kraft, wenngleich manchmal sehr mächtige Kraft, innerhalb eines unendlichen komplexen Kräftesystem zu kontextualisieren, die das Leben auf der Erde ausmacht.
Kritiker mögen einwenden, dass die Klimathese nicht neu ist. Gleichwohl ist FATUM das erste Buch dieser Art. Keine andere Monographie hat die Spätantike mit den modernsten Methoden der Paläowissenschaft so durchleuchtet oder die Bedeutung von Klimawandel und Seuchen für die Geschichte des Untergangs des römischen Imperiums so hervorgehoben.
FATUM ist Harpers drittes Buch innerhalb weniger Jahre. Es ist ehrgeizig und eine mutige Revision traditioneller Geschichtsschreibung. Auf 567 Seiten mit 42 Abbildungen, 9 Tabellen und 26 Karten führt es seine Leserinnen und Leser durch fünfhundert Jahre – von den „halkyonischen Tagen“ des zweiten Jahrhunderts bis etwa zum Jahre 650, als das Imperium auf einen „byzantinischen Rumpfstaat reduziert“ wurde.
Harpers FATUM ist ein beeindruckender intellektueller Kraftakt, der überzeugende wissenschaftliche Beweise aus Archäologie, Bioarchäologie, Evolutionsbiologie, Paläoklimatologie und Paläogenetik elegant mit historischen Erkenntnissen verbindet und verständlich präsentiert.
Auch der flüssige Erzählstil, der es einem schwer macht, das Buch wieder aus der Hand zu legen, ist positiv hervorzuheben. Zudem provozieren Harpers Thesen, sind angesichts der mit großer Akribie vorgetragenen Details nur schwer zu verwerfen und dürften den wissenschaftlichen Diskurs beleben. Künftige ökologisch fundierte historische Untersuchungen zum Untergang des Römischen Weltreiches werden sich daran messen lassen müssen.
Kyle Harper – FATUM
Das Klima und der Untergang des Römischen Reiches.
Aus dem Englischen von Anna Leube und Wolf Heinrich Leube
567 Seiten. Verlag C.H.Beck. München 2020