Wie nutzen indische Künstlerinnen heute ihre Stimme? Wie gehen sie mit ihrer sozialen Verantwortung um? Welche Sprache finden sie für das Unausgesprochene? Erstmals in Deutschland zeigt das Kunstmuseum Wolfsburg eine Ausstellung mit sechs Künstlerinnen aus Indien.
Mit wenigen Ausnahmen wie dem Bundesstaat Kerala im Süden des Landes ist die indische Gesellschaft vom Patriarchat geprägt. Die Annahme, dass Frauen weniger wert seien als Männer, ist tief in ihrer Mentalität verankert.
Die Ausstellung „Facing India“ geht der Frage nach, wie sich die eigene Landesgeschichte, Gegenwart und Zukunft aus weiblichem Blickwinkel darstellt.
Eine 14 Meter lange Weltkarte aus stacheldrahtähnlichen Elektrokabeln, ein begehbarer Raum aus be-drückend schwarzen Glasziegeln, eine Fotografie von einem Kühlschrank, in dem Rollteppen ins Nichts führen, eine bizarre Skulptur mit Zähnen, ein Film, in dem ein weißes Tuch wie ein wildes Tier in einem Fluss gebändigt wird: Vibha Galhotra (*1978), Bharti Kher (*1969), Prajakta Potnis (*1980), Reena Saini Kallat (*1973), Mithu Sen (*1971) und Tejal Shah (*1979) nutzen ihre multimedialen Werke als Orte der gesellschaftlichen Reflexion und lenken die Aufmerksamkeit auf historische und aktuelle Grenzkonflikte. Poetisch, metaphorisch und leise, aber auch radikal, direkt und laut hinterfragen sie Grenzen in jeglicher Hinsicht – seien es politische, territoriale, ökologische, religiöse, soziale, persönliche oder Geschlechtergrenzen. Die Geschichte dieser Grenzen, ihre Sichtbarkeit oder Unsichtbarkeit, ihre Legitimität und nicht selten ihre Auflösung sind das verbindende Thema der in „Facing India“ gezeigten Werke.
Die Ausstellung konzentriert sich auf sechs Positionen, um diese umso eingehender vorzustellen. In einer zunehmend globalisierten Welt sozialisiert und ausgebildet, beschränken sich die Künstlerinnen in ihren „Grenzkontrollen“ nicht mehr allein auf Indien, sondern greifen auf andere Länder und Kontinente aus. Staat, Gesellschaft und Individuum, Identitäts- sowie Umweltfragen werden kritisch unter die Lupe genommen. Doch wie breit ihr Themenspektrum auch sein mag, explizite und implizite Verweise auf die Präsenz des Weiblichen und die Stellung der Frau sowie Solidarität und Empathie ziehen sich wie ein roter Faden durch die Ausstellung.
„Facing India“ ist im fortwährenden Dialog mit den Künstlerinnen entstanden und spiegelt eine Art kollektives Plädoyer für Kommunikation und die Einheit in der Vielfalt jenseits von Schubladen- und Kastendenken. Die Ausstellungsarchitektur nimmt diesen Gedanken auf. Die Künstlerinnen bespielen sechs separate Ausstellungsbereiche, die in klarem Sichtbezug zueinander arrangiert sind. Im Zentrum der Ausstellung befindet sich ein offenes Kommunikationsforum, das dem Besucher den Blick in alle Richtungen ermöglicht – im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. KURATORIN Uta Ruhkamp
Facing India
29. April bis 7. Oktober 2018
Große Halle des Kunstmuseums Wolfsburg
Titelbild: Mithu Sen Installationsansicht „Facing
Foto: Marek Kruszewski