EWIGES RÄTSEL: US-ROCKPOET BOB DYLAN WIRD 80

1984 behauptete Bob Dylan in einem Interview, es werde wohl Hunderte Jahre dauern, bis man ihn verstehen würde. Gemeint hat er damit die unzähligen Fans, Kritiker und Dylanologen, die ihm mit all ihren Erwartungen und Deutungen seiner Persönlichkeit auf den Fersen waren, seit aus Robert Zimmermann aus der kleinen, öden Bergbaustadt Hibbing Bob Dylan wurde. Bob Dylan, der weltberühmte Sänger, Songwriter, Nobelpreisträger und Mann mit den vielen Masken.

Mit seiner Prognose wird er womöglich rechtbehalten. Immerhin spricht dafür allein schon der beachtliche Umfang seines Gesamtwerkes, das rund 600 Songs, 39 Studioalben, einen Roman, einen Memoirenband und zahlreiche Gemälde umfasst. Hinzu kommt ein Film als Regisseur, mehrere Filme, in denen er als Schauspieler auftrat und ein halbes Dutzend Dokumentarfilme.

Hohe Hürden für das Verständnis seiner Kunst errichten vor allem aber auch seine Songs selbst, die voller rätselhafter Metaphern, surrealistischer Wortspiele und versteckter Zitate aus der Bibel und den Werken Ovids, Petrarca, Shakespeares, Rimbauds, Baudelaires und anderer literarischer Größen sind. Und nicht zuletzt ist da der Mann selbst, dessen erratisches Verhalten immer wieder für Verwirrung gesorgt hat.

Unfreiwillige Inthronisierung zum Protestsänger

Als Dylan Anfang der 1960er Jahre wie aus dem Nichts in New York ankam, sah es zunächst nicht nach einer steilen Karriere als Musiker aus. Der am 24.5.1941 als Sohn ukrainisch-jüdischer Einwanderer in Duluth geborene Robert Zimmermann war hier unter den vielen Musikern im Künstlerviertel Greenwich Village  zunächst ein unbekanntes Gesicht. Ein etwas pausbäckiger junger Mann mit verwuschelten hellbraunem Haar und ungleichmäßig sprießenden Koteletten. Seine dünnen Beine steckten in engen Blue Jeans, seine Hemden waren zerknittert und er redete hippes, gelegentlich von Obszönitäten unterbrochenes Zeug in einem breiten, durch die übermäßige Aussprache und Dehnung der Vokale charakterisierten Great Lakes-Akzent.

Dylan begleitete sich allein auf der Akustikgitarre und spielte Mundharmonika. Seine Gesangsstimme, mit der er die Folk-Legende Woody Guthrie imitierte, war kratzig, rau und schrie bisweilen schrill. Seine Phrasierung war recht eigenwillig. Doch sein Talent, das Publikum in den Cafés mitzureißen, zeigte sich schon früh. Und das lag vor allem an seinen Texten. Einfache Worte, in denen er thematisierte, was die amerikanische Jugend der 1960er Jahre bewegte: soziale Ungleichheiten, die unsägliche Rassendiskriminierung, die Angst vor einem drohenden Atomkrieg, die Verlogenheit der Politik, faule Intellektuelle, die mit spitzer Feder schreiben, sich aber aus den Konflikten der Welt heraushalten.

The Times They Are a-Changin‘: Dylans unbekümmerter Protestsong aus den frühen Jahren. Die Zeiten haben sich schon geändert. Die Anziehungskraft dieses Liedes nicht.

Schnell stieg Dylan zum Liebling der Folkszene auf, wurde gar zur Symbolfigur der immer stärker werdenden Bürgerrechtsbewegung. 1963 nahm er mit Joan Baez, die ihn protegierte, am Marsch auf Washington teil.

Stilistische Häutung: vom Folk-Sänger zum Rockpoeten

Doch Dylan wollte sich von der Bürgerrechtsbewegung nicht vereinnahmen lassen. Seinen ersten und wohl noch immer umstrittenen Stilwechsel vom Folk zum elektrisch verstärkten Rock leitete er im März 1965 mit der Veröffentlichung des sarkastischen Anarcho-Songs „Subterranean Homesick Blues ein, der ersten Single aus seinem großartigen Album „Bringing it All Back Home“ aus demselben Jahr.  Er hatte offenbar kein Interesse mehr an dem halb-traditionellen amerikanischen Folk der ersten Alben und brach mit seinem Image als Protestsänger.

Auf dem Newport Folk Festival im August 1965 kam es zum Eklat, als er gemeinsam mit Musikern der Paul Butterfield Bluesband auftrat und die akustische Gitarre gegen eine E-Gitarre tauschte. Schon gleich nach den ersten Takten des Songs „Maggie’s Farm“ buhte ihn die wütende Menge aus, beschimpfte ihn gar als „Judas“. Dylan ließ sich indessen nicht beirren und setzte seine Hinwendung zum Rock auch mit seinen nächsten beiden Alben „Highway 61 Revisited“ und der Doppel-LP „Blonde on Blonde“ fort, die fast ausschließlich elektrisch verstärkte Rocksongs umfassten.

Like a Rolling Stone: Dylans kalte, zynische Moritat über den sozialen Absturz eines arroganten Mädchens aus gutem Hause: „If you ain’t got nothin‘, you got nothin‘ to lose./Wenn du nichts hast, kannst du auch nichts verlieren“.

Während seine Folkgemeinde den Stilwechsel als Verrat empfand, verkauften sich seine Platten gut und wurden von den Kritikern hoch gelobt. „Like a Rolling Stone“ kletterte bis auf Platz 2 in den US-Charts; die Musikzeitschrift Rolling Stone wählte das Lied zum „Größten Song aller Zeiten“. Titel wie die vor Sarkasmus triefenden Stücke „Rainy Day Women #12 and 35“und „I Want You“ machten deutlich, dass er seine Gabe für hellwache, pointierte Zeilen, die ihn Jahre zuvor zu einem Star der Folkmusik gemacht hatten, nicht verloren hatte, wenngleich seine Texte surrealer und introspektiver wurden. Und einen Dylan zeigten, der sich seine lyrische Freiheit erkämpft hatte und in den folgenden Jahren sorgsam darauf achtete, sich nicht wieder von seinen Fans oder in der Auslegung seiner Texte festnageln zu lassen.

Türöffner des Country-Rock und Hinwendung zum Gospel-Rock

Drehungen und Wendungen dieser Art haben sich in Dylans episch langer Karriere wiederholt. 1966 zog er sich von Tourneestress und Terminkalender erschöpft nach einem schweren Motorradunfall aus der Öffentlichkeit zurück. Als er nach einigen Jahren in die Musikwelt zurückkehrte, machte er Alben wie „Nashville Skyline“, auf denen er sich dem Country-Rock zuwandte und die mal mehr, mal weniger erfolgreich waren.

Twist of Fate erzählt vom magischen Moment, wenn sich zwei Seelenverwandte treffen, sich ineinander verlieben und sich schließlich trennen, weil es nicht funktionieren will: Woran liegt’s? „Blame it on a simple twist of fate“/ Schicksal. Es hat nicht sollen sein.“

Die Doppel-LP „Self Portrait“ aus dem Jahre 1970 stellte selbst seine treuesten Fans auf eine harte Probe, während das stilistisch eklektische „Desire“ von 1976 zu seinen erfolgreichsten Alben überhaupt gehört. In den späten 1970er Jahren trat er nach seiner Konvertierung zum Christentum mit Gospel-Rock in eine von der Kritik vielfach verspottete evangelikal-christliche Phase ein, die er selbst als seine christliche Wiedergeburt bezeichnete. Eine Zeit lang strich Dylan sogar bei seinen Live-Shows das gesamte nicht-religiöse Material seines riesigen Backkatalogs und wandte sich zwischen den Songs mit christlichen Botschaften von der Bühne an sein Publikum. Selbst das ihm zugetane Magazin „Rolling Stone“ kam da nicht mehr und nannte ihn in einem Artikel als „Karikatur eines bibelfesten Konvertiten“.

Ungebrochene Resilienz

Trotz mancher Niederschläge hat sich Dylan in all diesen Jahren erstaunlich gut gehalten. Von einem Karrieretief im mittleren Lebensabschnitt erholte er sich wieder und vollzog ein künstlerisches Comeback, das ihm wohl niemand außer er selbst sich zugetraut hätte. Und das in einem Alter, in dem die meisten Rockstars ihre Gitarre längst an den Nagel gehängt oder gar das Zeitliche gesegnet hatten.

Seine Rolle als gescheiterter Rockstar im Film Hearts of Fire von 1987 und seine LP „Dylan & the Dead“ im selben Jahr markierten seinen Tiefpunkt. Seine Wiederbelebung von der Vita minima leitete er zehn Jahre später mit seinem mit drei Grammys ausgezeichneten Album „Time Out of Mind“ ein, auf dem er zum ersten Mal wieder eigene Kompositionen veröffentlichte.  Und die  Alben „Love and Theft“ (2001), „Modern Times“ (2006), „Tempest“ (2012) und „Rough and Rowdy Ways“ aus dem vergangenen Jahr setzten die erfolgreiche Renaissance fort.

All das geschah vor dem Hintergrund seiner „Never-ending Tour“, für die er seit 1988 wohl mehr als 3000 mal auf der Bühne gestanden hat und die er nur durch die Covid-Pandemie unfreiwillig unterbrechen musste. Dieses gewaltige Arbeitspensum hat seinen Tribut gefordert. Dylan leidet an Arthritis. Deshalb kann er keine Gitarre mehr halten, geschweige spielen; er steht auf der Bühne, den Rücken oft zum Publikum gekehrt, gebückt am E-Piano.  Spötter sagen, dass er das Instrument gar nicht spiele, sondern nur als eine Art Gehstock missbrauche. Seine vom Umfang von jeher eingeschränkte Gesangstimme ist inzwischen vollends zerrüttet und hat einer kiesigen Deklamation seiner Songs Platz gemacht. All das hält Dylan indessen nicht davon ab weiterzumachen.

Mann mit vielen Gesichtern

Ansonsten sorgte Dylan immer mal wieder für Schlagzeilen, die die Rätselhaftigkeit seiner Person beleuchten. 1985 irritierte er beim Live-Aid-Konzert zugunsten der hungerleidenden Bevölkerung Äthiopiens mit der Bemerkung, er hoffe, dass ein Teil der Einnahmen den notleidenden US-Farmern zugutekommen werde. Viele seiner Songs lassen eine skeptische, abschätzige Haltung zum Geld erkennen. Tatsächlich hat sich Dylan selbst schon früh als sehr geschäftstüchtig erwiesen. In einem frühen Interview sagte er einmal, dass ihm die kommerzielle Seite der Folkmusik  verhasst sei. Dies hielt ihn freilich nicht davon ab, gleich zwei Agenten zu beschäftigen, die dafür sorgten, dass seine Verträge besonders lukrativ waren.  1994 lizenzierte er seine Songs erstmals für Werbung. Und im letzten Jahr verkaufte er gar seinen gesamten Songkatalog an Universal Music, angeblich für mehr als 300 Millionen Dollar.

Dylan ist Literatur – Nobelpreisträger

2016 folgte die Verleihung des Literaturnobelpreises, zu der er monatelang schwieg, bevor er die mit 900.000 US Dollar dotierte Ehrung dann doch noch annahm. Die Teilnahme am Festakt in Stockholm lehnte er jedoch ab, ließ sich von seiner Kollegin Pattie Smith vertreten. In seiner Dankesrede, in der er sich mit Shakespeare verglich, sprach er auch über den Einfluss diverser literarischer Werke wie „Moby-Dick“, „Im Westen nichts Neues“ und die „Odyssee“ auf sein künstlerisches Schaffen (Bob Dylan – Nobel Lecture. Dann stellte sich heraus, dass er manche seiner tiefsinnigen Überlegungen zu Melvilles Werk im Internet geklaut hatte.

Was mag ihn wohl dazu bewogen haben? Bequemlichkeit? Oder der Wunsch, der Schwedischen Akademie eines auszuwischen? Bob Dylan, der Dieb versus Bob Dylan, der Schelm?

Fragen nach seiner enigmatischen Persönlichkeit wie auch nach dem Sinn seiner Songtexte, die längst Gegenstand tiefschürfender literaturwissenschaftlicher Analysen geworden sind, werden wohl niemals letztgültige, in Stein gemeißelte Antworten liefern. Höchstens solche, die flüchtig sind wie der Wind, von denen er in seinem Jahrhundertsong  „Blowin‘ in the Wind“ singt.  

Standardbild
Hans Kaltwasser
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