Die erste Szene des Filmdramas „Caught by the Tide“ des chinesischen Regisseurs Jia Zhang-Ke zeigt Frauen, wie sie sich gegenseitig ermuntern zu singen. Darunter auch Qiaoqiao (ZHAO TAO). Später wird sie in einem früheren schmucklosen Industriegebäude, in dem das ramponierte Porträt des großen Mao Tse Tong hängt, ansonsten aber wenig einladend ist, mit anderen Frauen gemeinsam singen, um Rentnern und Arbeitern das Leben zu versüßen.
China steht vor einem enormen Umbruch. Trostlose Bilder zeigen die Reste einer Architektur, die dem „Drei-Schluchten-Damm“ weichen muss, der seit 1994 in Planung steht. 1,3 Millionen Menschen werden umgesiedelt. Die junge Qiaoqiao singt nicht nur, sondern modelt auch für ein neu eröffnetes Kaufhaus und liebt Bin (LI ZHUBIN). Es ist eine zerbrechliche Liebesgeschichte zwischen Qiaoqiao und Bin, die in Datong leben und alles genießen, was die Stadt zu bieten hat.
Der Film ist sparsam an Dialogen, dafür reich an ausdrucksstarken Bildern und langen Einstellungen, die eine faszinierende Sprache sprechen. Und auch Bin gibt nicht viele Erklärungen ab, sondern verlässt die Stadt ohne Vorankündigung. Qiaoqiao spricht nie, beschließt aber bald, Bin zu folgen und schreibt ihm, dass sie Datong verlassen hat, um ihn zu suchen.
„Caught by the Tide“ folgt Qiaoqiao auf ihrer Suche nach Bin. Szenenweise wirkt der Film wie eine Dokumentation, die beeindruckende Bilder und den sozio-ökonomischen Wandel im Zeitraum von 21 Jahren bis hin zur Pandemie einfängt. Jia Zhang-Ke liefert aber ebenso einen epischen Blick auf das Schicksal seiner Protagonistin Qiaoqiao, die auf ihrer Reise stets unerschrocken in abenteuerliche Situationen gerät. Sie findet Bin, ein gemeinsames Leben mit ihm jedoch nicht.
Der Film „Caught by the Tide“ zeigt ein Land, das sich in einem tiefgreifenden Wandel befindet, und bietet eine neue Perspektive auf das zeitgenössische China. In diesem Zeitraum bleiben die Menschen stumm, wie Qiaoqiao im Film, die niemals spricht. Die Menschen in China haben keine Stimme, die über die großen Veränderungen und Umwälzungen mitentscheiden könnten. Scheinbar emotionslos lassen sie alles über sich ergehen.
Die elektronische Musik des taiwanesischen Komponisten Lim Giong verleiht dem Film ein poetisches und melancholisches Flair und kann so die fehlenden Emotionen der Menschen ersetzen.
„Nach buddhistischer Auffassung ist das Leben nichts anderes als ein Kreislauf aus Geburt, Alterung, Krankheit und Tod. Es scheint, dass das Universum jedem von uns dasselbe Drehbuch vorgegeben hat, dem wir folgen sollen, aber jeder von uns erlebt es individuell,“ so der Regisseur zu seinem Film.
„Caught by the Tide“ besitzt ebenfalls eine individuelle, erstaunliche und meisterhafte Filmsprache und lässt die Zuschauer*innen in ein anderes, fremdes Leben eintauchen und daran teilnehmen. Unbedingt im Kino ansehen.
CAUGHT BY THE TIDES feierte seine Weltpremiere bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes und seine Deutschlandpremiere beim Filmfest München in 2024.
Kinostart 15. Mai 2025
Alle Fotos: (c) X-STREAM-PICTURES