Eddie Harris: LIVE AT FABRIK Hamburg 1988

Kaum ein moderner Tenorsaxofonist hatte sein Instrument so im Griff wie der versierte US-amerikanische Jazzmusiker, Komponist, Innovator und glänzende Entertainer Eddie Harris. Seine Soli waren komplex und doch klar. Sein Scat-Gesang, ein hemmungsloser Mix aus Jodeln, bedrohlichem Knurren und anderen Geräuschen, spiegelte seinen eigenwilligen Saxofon-Stil. Dennoch betrachteten viele Jazz-Kritiker den virtuosen Multiinstrumentalisten, der neben dem Saxofon auch Piano und Vibrafon spielte, lange Zeit mit Argwohn. Vor allem, nachdem er die erste im Jazz überhaupt vergebene goldene LP bekam. 26 Jahre nach seinem Tod ist Eddie Harris längst zu einer Stilikone des Groove- und Funk-Jazz geworden, der unzählige Musiker nachhaltig beeinflusst hat.  

Das soeben erschienene Doppelalbum EDDIE HARRIS LIVE AT FABRIK ist ein sehr schöner Konzertmitschnitt des NDR aus dem späten Leben des im Jahre 1996 verstorbenen Tenorsaxofonisten, das acht zeitlose Preziosen aus Jazz, Soul und Funk enthält. Die Aufnahmen erinnern noch einmal daran, welche musikalische Kraft, Virtuosität und Leidenschaft Harris entfalten konnte, wenn er sich nur in der richtigen Umgebung bewegte. Der Veranstaltungsort, „Die Fabrik“ im Hamburger Bezirk Altona, eine zu einem Kulturzentrum umgebaute ehemalige preußische Munitionsfabrik mit beeindruckender Architektur, bot offensichtlich hierfür beste inspirierende Voraussetzungen. Unterstützt wird Harris hier von exzellenten Musikern, Darryl Thompson an der Gitarre, Ray Peterson am Bass und Norman Fearrington am Schlagzeug.

Das Quartett präsentiert sich in Bestform. Die Musiker zeigen ein perfektes Gespür füreinander wie auch für die Stimmung der Stücke, die sie spielen. Titel wie „Blues Bossa“ offenbaren, dass Harris ein Händchen für elegante, ausgefeilte Arrangements hatte. „Ice Cream“ zeigt mit seinen kantigen Intervallsprüngen und abgerissenen Melodiefetzen die Wurzeln im Bebop.

Vor allem die langen Stücke wie „Ambidextrous“, „Vexatious Progressions“ und das von Miles Davis gecoverte „Freedom Jazz Dance“ stecken voller interessanter Rhythmen und ungewöhnlicher, wirkungsvoller Wechsel in Tempo und Feel. Hier ist kein alternder Jazzer am Werke, der sich ehrbar an Standards abarbeitet, sondern ein außergewöhnlicher Musiker, der mit großer Leidenschaft und virtuosem Können spielt. Und einer, der die Freude an Anarchie und musikalischem Witz nicht verloren hat, wie etwa beim Stück „La Carneval“ deutlich wird, bei dem Harris das Saxofon gegen das Klavier eingetauscht hat und eine fulminante Kostprobe seiner eigenwilligen Gesangstechniken bietet. 

Dem Hamburger Publikum hat es hörbar gefallen. Es dankt den vier Musikern bei den Soli und nach jedem Stück mit begeistertem, lautstarkem Beifall. Eddie Harris: LIVE AT FABRIK ist nichts weniger als ein kleines Meisterwerk, das einen außergewöhnlichen Jazzmusiker und seine hervorragenden Kollaborateure in bester Spiellaune und tadelloser Klangqualität zeigt. Anderthalb Stunden Hörgenuss, da muss man zugreifen!  

Standardbild
Hans Kaltwasser
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