DRACULA: Lebendig bis zum letzten Biss

Heute vor 125 Jahren erschien Bram Stokers DRACULA

Er ist der populärste Untote der Literaturgeschichte, neben dem die anämischen jugendlichen Blutsauger aus der „Twighlight Saga“ blasser denn je wirken: Dracula, ein alternder Graf aus Transsylvanien mit rubinroten Lippen und scharfen Reißzähnen, der die Blüte der viktorianischen Frauenwelt verdirbt und das Herz des britischen Empires bedroht. Heute vor 125 Jahren erschien die Erstausgabe des Schauerromans von Bram Stoker, einem irischen Zeitgenossen Oscar Wildes, der populäre Romane schrieb, um sein Einkommen aufzubessern.

Verschmelzung unterschiedlicher Gattungen

DRACULA erzählt in Form von Tagebucheinträgen und Briefen die Geschichte des jungen Anwalts Jonathan Harker, der die Geschäfte eines mysteriösen rumänischen Grafen führen soll und dabei ein Böses entfesselt, das sich an denjenigen vergreift, die ihm am nächsten stehen, bis sich die Kräfte des Guten zusammenfinden, um es wieder zu besiegen. In Stokers Geschichte verschmelzen Folklore und Mythos mit wissenschaftlichem Rationalismus, Psychiatrie und Anthropologie in einer Weise, die dem anderen großen Schauerroman des 19. Jahrhunderts, „Frankenstein“, ähnelt. Doch wie Mary Shelleys Monster ist auch Stokers Erzählung viel mehr als die Summe ihrer Teile. Trotz – oder vielleicht gerade wegen – seiner vielen Unvollkommenheiten ist DRACULA ein unheimliches Spiegelbild von Stokers Zeit, das deren lüsterne Beschäftigung mit Sexualität und moralischer Schwäche reflektiert.

Stoker war ganz und gar ein Kind seiner Zeit. Er schrieb in der schwülen Literaturkultur des Fin-de-Siècle, die von Kriminal-, Geister- und Horrorgeschichten geradezu besessen war. Romane, die in exotischen Sensationen und Gefahren lustvoll schwelgten. Henry Rider Haggards „She“ (1886), Louis Stevensons „The Strange Case of Dr. Jekyll and Mr. Hyde“ (ebenfalls 1886) und Oscar Wildes „The Picture of Dorian Gray“ sind nur die bekanntesten Beispiele dieser Tradition.

Spiegelbild zeitgenössischer Ängste

Zu den zeitgenössischen Ängsten, die sich in Stokers Erzählung widerspiegeln, gehört auch Angst vor der Zukunft. Während das viktorianische England das „British Empire“, in dem die Sonne niemals untergehen würde, mit aufeinander folgenden Jubiläen in den Jahren 1887 und 1897 feierte, sorgten sich bereits viele Menschen um ausländische, insbesondere zunehmend deutsche Bedrohungen der ungestörten Harmonie des englischen Lebens. Einige Jahre später entwickelte sich daraus der Trend zu Invasionsthrillern wie HG Wells‘ „Krieg der Welt“ (1897) und Erskine Childers‘ Klassiker „Das Rätsel der Sandbank“ (1903).

Die Geschichte von Jonathan Harkers Besuch in Transsylvanien ist im Jahr 1893,  also in der Gegenwart des Autors angesiedelt. Das Grundstücksgeschäft, über das Harker eigentlich verhandeln sollte, ist schnell vergessen, nachdem der Graf den Anwalt gefangen genommen hat. Als Harker in den Bann der „Schwestern“ (der Bräute Draculas) gerät, scheint es unmöglich, dass er mit dem Leben davonkommt. Was, so fragt sich der Leser, kann jetzt wohl noch passieren?

Tatsächlich ist dieser gewaltige Auftakt nur das Vorspiel zu einigen immer bizarreren Wendungen: Draculas Ankunft in England versteckt in einem Sarg; seine unheimliche Verfolgung von Harkers Verlobten Mina und ihrer Freundin Lucy; das beherzte Eingreifen des berühmten Vampirjägers Professor Abraham van Helsing und der dramatische Höhepunkt der Geschichte, van Helsings Kampf mit dem Grafen vor Draculas Schloss, der damit endet, dass der edle Vampir zu Staub zerfällt.

Klassiker der Populärkultur

DRACULA ist ein ewiger Klassiker der Populärkultur. Die Handlung des Romans ist kraftvoll, Stokers Prosa reißerisch – oft mit homoerotischen Untertönen. Stoker stützte sich zweifellos auf die frühere Vampirliteratur, aber er war auch sehr originell und gründlich in seinen Recherchen. Um seine Geschichte zu vollenden, benötigte er mehr als sieben Jahre. Danach wurde Transsylvanien wie der Balkan insgesamt zum Ziel englischer Krimiautoren von Eric Ambler bis Ian Fleming.

In der Zwischenzeit hat Stokers DRACULA auch dank des Kinos nichts von seiner Anziehungskraft eingebüßt, auch wenn er von manchen Kritikern anfänglich verschmäht wurde. So zeigte sich der Manchester Guardian bei der Veröffentlichung des Romans heute vor 125 Jahren skeptisch hinsichtlich der Zukunft des Schauerromans. Obwohl der Rezensent die literarischen Fähigkeiten Stokers lobte, kam er zum Schluss, dass einen ganzen Band mit purem Schrecken zu füllen, wohl ein künstlerischer Fehler war. Na ja, Irren ist menschlich.

Standardbild
Hans Kaltwasser
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