Haare sind hauptsächlich aus Keratin bestehende, lange Hornfäden – und diese spielen im neuen Roman von Sofi Oksanen eine bedeutsame Rolle. Denn die Protagonistin Norma leidet unter einem übermäßigen Haarwuchs. Mehr noch, ihre Haare spüren und reagieren auf Menschen und deren Gefühle und zeigen diese an. Sie kringeln und drehen sich – wachsen in einem Tempo, das ihre Trägerin vor Probleme stellt. Nur ihre Mutter Anita weiß davon und schneidet Normas Haare täglich. Doch die Mutter – kaum von einer Reise zurückgekehrt – begeht Selbstmord, stürzt sich auf die Gleise der U-Bahn. Schmerzlich und völlig unverständlich für Norma. Da kann etwas nicht stimmen. Auf der Beerdigung trifft sie auf Lambert – den Exmann einer Freundin von Anita. Er bemüht sich um Norma, will ihr helfen, hat aber eigentlich anderes im Sinn. Norma spürt das und ihre Haare auch.
Schließlich willigt sie ein, im Frisörsalon von Marion zu arbeiten, die eine Tochter von Anitas Freundin Helena ist. Dort ist man spezialisiert auf Haar-Extensions, und Norma erfährt, dass Lambert ein ganzes Netzwerk aufgebaut hat, das weltweit Haare beschafft. Darüberhinaus vermittelt er auch Leihmutterschaften und da besitzen er und sein Clan fast schon ein Monopol.
Dann findet Norma Videos von ihrer Mutter auf deren Labtop. Jetzt wird klar, dass ihre Mutter sich aufgemacht hatte, beruflich selbstständig zu werden und Lamberts Netzwerk wegen krimineller Machenschaften bei der Polizei anzuzeigen. Und sie hatte Normas Haar als ukrainisches verkauft. Nun fordert Lambert die Adresse des Zwischenhändlers in der Ukraine, ansonsten drohen Norma große Schwierigkeiten….
Sofi Oksanen macht in ihrem Roman das Haar zu einem magischen Wesen, das ein Eigenleben führt und dessen sensible Besitzerin sich machtlos ausgeliefert fühlt. Haare besitzen tatsächlich eine starke Ausstrahlung. Überall auf der Welt gibt es Frauen, die sich ihr Haar durch Extension verschönern lassen. Damit werden Haare zu einem Wirtschaftsgut und Frauen zu möglichen Ausbeutungsopfern. Und bei Frauenhaaren wird nicht Halt gemacht, nein, auch die Leihmutterschaft ist zu einem weltweiten Renner geworden. Frauen, die keine Kinder bekommen können oder wollen, leihen sich in Rumänien oder Thailand eine junge Frau, die ihr Kind austrägt. Da sträuben sich nicht nur bei Norma die Haare.
Der sensible und sehr unterhaltsame Roman, erzählt auf zauberhafte Weise brisante Wahrheiten über das, was möglich ist und wo die Grenzen sein sollten, damit Frauen überall auf der Welt nicht ausgebeutet werden.
Die Sache mit Norma
Sofi Oksanen
Aus dem Finnischen von Stefan Moster
Kiepenheuer&Witsch
ISBN: 978-3-462-04963-3
Sofi Oksanen wurde am 7. Januar 1977 in Jyväskylä, Finnland, geboren. Die Tochter einer estnischen Mutter und eines finnischen Vaters studierte Literaturwissenschaft und Dramaturgie an den Universitäten von Jyväskylä und Helsinki. Nach ersten Erfolgen mit dramatischen Texten, wechselte Oksanen zur Prosa. Obwohl sie von ihrer Mutter die estnische Sprache gelernt hat, schreibt sie ausschließlich auf Finnisch. Sowohl in ihren Romanen als auch in Essays, Zeitungsartikeln, Kolumnen und Interviews setzt sich die Autorin mit der schwierigen politischen Geschichte Finnlands und Estlands auseinander und mischt sich auch in aktuelle Debatten ein. Bei der Frankfurter Buchmesse 2014 hielt sie die Eröffnungsrede für das Gastland Finnland mit einem Appel gegen totalitäre Herrschaften und für die Freiheit der Kunst. Sofi Oksanen ist verheiratet und lebt in Helsinki.