Die Natur der Natur

Im Museum für angewandte Kunst in Frankfurt gelingt dem Fotografen Norbert Schoerner mit seinen Fotografien unter dem Titel „Die Natur der Natur“ – Fukushima Project, magische Wirkungen zu erzielen. Seine Fotografien zeigen einzelne Kiefern, die sich vor einer kargen, bergigen Landschaft aus wogenden Gipfeln und dunklen Himmelsformationen erheben.

Schauen Betrachter*innen genauer hin, fällt allerdings auf, dass es sich nicht um gewöhnliche Bäume handelt. Denn der Stamm der Kiefer ist nicht in der Erde verwurzelt, sondern endet in einem Gefäß, das an die typischen Keramikschalen erinnert, in denen Bonsais gezogen werden. Die vermeintliche Logik des Bildes, – der zufolge Vordergrund und Hintergrund einen zusammenhängenden Raum beschreiben, eine durchgängige Realität – wird gebrochen.

Die Bonsais auf Norbert Schoerners Fotografien sind aus der Aufzucht der Familie Abe, die in der Bergregion Azuma in der Nähe von Fukushima lebt. Seit drei Generationen ziehen diese Meister – Kurakichi, sein Sohn Kenichi und sein Enkelsohn Daiki – Bonsais aus Samen. Dabei handelt es sich ausschließlich um Samen von Baumarten, die im Schatten des Vulkanberges Azuma-Kofuji zu finden sind. Für seine Fotografien stieg Schoerner auf den Berg und nahm eine Reihe von Landschaftsbildern auf. Davon ließ er Abzüge so großformatig anfertigen, dass wenn die Bonsais der Familie Abe davor aufgestellt und im richtigen Licht fotografiert wurden, die Miniaturkiefern aussahen wie ausgewachsene Bäume.

© Norbert Schoerner

Der Fotokünstler fotografierte die Bonsais in konstruierten dioramahaften Umgebungen. Daraus lässt sich schließen, dass er sie an ihren Ursprungsort zurückbringen möchte, und ihnen zu ermöglichen, ihr volles Wachstumspotenzial zu erreichen. Statt des Beherrschens der Kräfte des Baumes scheint hier ihre Befreiung auf, was im Einklang mit einer romantischen Naturbeziehung stehen würde.

Fukushima und Motive der Romantik

Am Ausgangspunkt der Schau hängt eine Fotografie von David Caspar Friedrichs Weidengebüsch bei tiefstehender Sonne (1832/1835), das Norbert Schoerner im Deutschen Romantik-Museum in Frankfurt fotografierte. Der Bezug zur Romatik ist damit hergestellt, denn an David Caspar Friedrichs Werken lassen sich die zentralen Begriffe der Romantik wie eine subjektive Perspektive oder das Hell-Dunkel-Phänomen festmachen.

Subjektivität und Individualität, das Ausdrücken von Empfindungen und das Ergründen der Tiefen des menschlichen Geistes spielen in der Romantik die zentrale Rolle. Die perspektivische Konstruktion des Bildraums bietet einen Ausblick auf einen Imaginationsraum außerhalb des Bildes.

© Norbert Schoerner

In den weiteren Ausstellungsräumen begegnen die Besucher:innen unter anderem fotografischen Diptychen und Triptychen, die an japanische Stell- und Wandschirme erinnern. Diese Teilung lädt dazu ein, den Blick auf die Motive zu lenken – ein Blick wie aus einer japanischen Architektur auf eine Landschaft.

Die Besucher* innen der Ausstellung werden auch unmittelbar mit den zerstörerischen Folgen der Fukushima-Katastrophe und den Versuchen der Menschheit, die Natur für ihre eigenen Zwecke zu nutzen und zu beherrschen, konfrontiert. So zum Beispiel in Schoerners Kurzfilm Occursion (2020), der auf einem verlassenen Bauernhof in der Nähe von Tomioka, Fukushima, gedreht wurde, etwa 15 Kilometer von dem Kernkraftwerk Daiichi entfernt. Der Fotograf hat hier das Grün einer Nachtsichtkamera verwendet, um die abstrakte allgegenwärtige Strahlung darzustellen, die die Flora und Fauna der ehemaligen Sperrzone durchdringt.

Am Ende der Ausstellung begegnen die Besucher*innen zwei Bildern von einem eingezäunten Grundstück, auf dem sich schwarze Plastikmüllsäcke stapeln, die verstrahlte Muttererde enthalten, die nach den nuklearen Störfällen von Fukushima Daiichi auf öffentlichem Land eingesammelt wurde. Die unscheinbaren Säcke, die normalerweise zur Entsorgung für harmlosen Hausmüll dienen, zeugen von der erschütternden Unfähigkeit, mit der Komplexität der Ereignisse des 11. März 2011 und deren Folgen fertigzuwerden.

Im Verlag der Buchhandlung Walther und Franz König erscheint ein Katalog zur Ausstellung mit Beiträgen von Tom Morton, Shinchi Nakazawa, Julia Psilitelis und Matthias Wagner K. Der Katalog ist für 29 Euro an der Museumskasse zu erwerben.

Kurator: Prof. Matthias Wagner K

Die Natur der Natur
Fukushima Project

vom 14. Mai – 18. September 2022 zu sehen im Museum für angewandte Kunst in Frankfurt

Titelbild: © Norbert Schoerner

Standardbild
Ingrid
Kunst und Kultur, Musik und Bücher, ohne sie ist ein Leben denkbar, aber für mich sinnlos. Darum habe ich diesen Blog ins Leben gerufen. Es macht viel Spaß, ihn zu gestalten - ich hoffe, den Usern, ihn zu lesen. Nicht alles, was gedruckt wird, muss gelesen, nicht jedes Album gehört werden. Was die User hier finden, gefällt mir und den Gastautoren, die ab und zu Lust haben, etwas zu schreiben.
Artikel: 3372

Schreibe einen Kommentar

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.