„Ich fürchte nichts – nichts – als die Grenzen deiner Liebe“ – wer hat nicht schon einmal ähnlich gedacht, wie hier der große Dichter Friedrich Schiller? Doch lösen solche Aphorismen oder gar Gedichte heute noch Gänsehaut aus? Oft wird Musik als gänsehautauslösend beschrieben, rauschhafte Musikstücke etwa. Doch erzeugen auch andere Kunstwerke wie Poesie oder Lyrik diese „gemischte Empfindung des Leidens und der Lust an dem Leiden“ ( Friedrich Schiller)?
Wissenschaftler des Max-Planck-Instituts für empirische Ästhetik in Frankfurt fanden nun physiologische Evidenz für dieses Phänomen. Sie untersuchten In einer groß angelegten Studie körperliche, neuronale und verhaltensrelevante Reaktionen auf bewegende Gedichte. Als Indikator für den Grad des Bewegtseins diente die Entstehung von Gänsehaut. Die Forscher fanden heraus, dass Gänsehautmomente von Gesichtsausdrücken begleitet werden, die auf negative Emotionen schließen lassen. In denselben Momenten war jedoch auch das Belohnungssystem im Gehirn aktiv.
Poesie kann als machtvoller Auslöser für eine körperliche Reaktion wie Gänsehaut gelten, und die Verteilung der Gänsehautmomente verrät etwas über die Mechanismen der poetischen Sprache. Die Forscher fanden zum einen heraus, dass Gänsehaut bevorzugt in Redesituationen (z.B. in wörtlicher Rede) ausgelöst wurde. Zum anderen häuften sich die Gänsehautmomente am Ende einzelner Verse, Strophen und vor allem des ganzen Gedichts.
Die Begründung hierfür findet sich in den Prinzipien der poetischen Sprache: Reim und poetische Metren erwecken starke Erwartungshaltungen beim Zuhörer. Das Vorhersagesystem im Gehirn prüft kontinuierlich, inwiefern ein Gedicht die Erwartungen, die es selbst aufbaut, erfüllt oder verletzt. Besonders stark sind diese Erwartungen an Schlusspositionen, da diese das Auftreten einer Pause oder gar des Gedichteten antizipieren. Oft werden sie durch das Reimschema noch zusätzlich verstärkt.
Auch die inhaltliche Choreographie von Gedichten trägt zu Erwartungen an eine Zuspitzung oder finale Lösung bei. Offenbar wissen Dichter also sehr genau, wie sie uns – insbesondere am Ende von Spannungsbögen – einen Schauer über den Rücken laufen lassen können.
Originalpublikation (open access):
Wassiliwizky, E., Koelsch, S., Wagner, V., Jacobsen, T., & Menninghaus, W. (2017). The emotional power of poetry: neural circuitry, psychophysiology, compositional principles. Social cognitive and affective neuroscience. doi 10.1093/scan/nsx069
Ob Schiller auch bei euch Gänsehautmomente erzeugt, könnt ihr hier testen
Nicht ihres Lächelns…
Nicht ihres Lächelns holder Zauber war’s,
Die Reize nicht, die auf der Wange schweben,
Selbst nicht der Glanz der göttlichen Gestalt –
Es war ihr tiefstes und geheimstes Leben,
Was mich ergriff mit heiliger Gewalt;
Wie Zaubers Kräfte unbegreiflich weben –
Die Seelen schienen ohne Worteslaut
Sich, ohne Mittel, geistig zu berühren,
Als sich mein Atem mischte mit dem ihren;
Fremd war sie mir und innig doch vertraut,
Und klar auf einmal fühlt’ ich’s in mir werden,
Die ist es oder keine sonst auf Erden!
(aus dem Trauerspiel „Die Braut von Messina“ von Friedrich Schiller)