Die Corona-Gesellschaft -Analysen und Perspektiven

Corona-Virus – der Name dürfte bei vielen allergische Reaktionen hervorrufen, dennoch sind Beiträge beispielsweise als Podcast rund um das Virus sehr gefragt: 83 Prozent der Hörer geben an, Podcasts zum Coronavirus zu hören*. Denn unser Leben hat sich verändert. Die Coronakrise ist wie ein Stresstest, wobei nicht bekannt ist, wie das Ende aussieht etwa für das Gesundheitssystem, für die Wirtschaft, für die Demokratie. Spaltet sie unsere Gesellschaft noch tiefer? Das Buch „Die Corona-Gesellschaft – Analysen und Perspektiven“, herausgegeben von Michael Volkmer und Karin Werner, wirft Fragen auf und analysiert den Zustand, in der sich unsere Gesellschaft derzeit befindet.

Beherrschte zu Beginn der Pandemie die Expertise der Virologie die öffentliche Debatte, melden sich die Experten in der vorherigen Breite nicht mehr zu Wort. Dagegen stehen Veränderungen im gesellschaftlichen Raum, die eine sozial- und kulturwissenschaftliche Betrachtung der Pandemie benötigen. Denn jenseits von Ansteckungs- und Mortalitätsraten hat die Pandemie tiefgreifende Auswirkungen auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt und das alltägliche Leben der Menschen.

Heute weiß man bereits, dass die Luftverschmutzung die Anzahl und Schwere der Covid-19-Infektionen erhöhen wird. Schmutzige Luft entzündet die Lungen und verursacht Atemwegs- und Herzkrankheiten, die die Menschen anfälliger machen. Wer in solchen besonders luftverschmutzen Gebieten lebt, hat im Vergleich zu anderen ein höheres Risiko zu erkranken.

Wie können sich Gesellschaften vor solchen Pandemien schützen? Sind diese Schutzmaßnahmen untereinander vergleichbar? Zunächst ist das Vergleichen mit ähnlichen Viren und epidemischen Verläufen eine übliche wissenschaftliche Herangehensweise. Bewertungen und Einschätzungen sind nur im Licht bereits gemachter Erfahrungen wie etwa der Pest-Epidemie möglich. Vergleichen dient der Suche nach wissenschaftlichen Erkenntnissen.

Pandemien und Staatsgewalt

Verschwörungstheorien und protestierende Menschenmengen gegen die Maßnahmen des Staates zur Eindämmung der Epidemie, die scheinbar mutwillig mit dem Ziel eingesetzt werden, die Freiheit des Individuums einschränken zu wollen, sind nicht neu. Mit ähnlichen Strategien wie heute – Quarantäne, Isolation und Stilllegung des öffentlichen Lebens – wehrte zu Zeiten der Pest-Epidemie die Staatsgewalt das Pestbakterium und seine Verbreitung ab.

Die Corona-Pandemie braucht einen verlässlichen Staat und das Vertrauen der Gesellschaft. „In der Epidemie sieht das Antlitz des Leviathan so aus wie die Gesellschaft, die sich seiner Gewalt beugt.“(S.42) Jetzt erweist sich, ob ein berechtigtes Vertrauen der Menschen in seinen Staat und dessen Maßnahmen vorhanden ist. Oder gar schon vorher zerstört war und nun offenbart wird. Denn ohne Vertrauen ist der Staat ein zahnloses Wesen, das seine Bürger nicht schützen kann (ebenda S.43), wie bedauerlicherweise in den USA sichtbar wird, wo bisher bereits Hunderttausende an Covid-19 sterben mussten.

Körper und Körperlichkeit

Das Virus dringt nicht nur in den menschlichen Körper ein, sondern verändert auch den interaktiven Verkehr der Menschen. Maskierte Gesichter verringern Deutungsmuster der Kommunikation. Nähe und Distanz bekommen einen anderen Stellenwert. Kann Gesellschaft ohne face-to-face-Beziehungen und Kommunikationen auskommen?

Protest oder Solidarität

Sich ins Unvermeidliche fügen, protestieren, helfen oder resignieren? Wie reagieren die Menschen auf die verhängten Maßnahmen? Gibt es Gleichheit vor dem Corona-Virus? Nein, haben wir gelernt, selbst wenn es sich so leicht behaupten lässt und so romantisch klingt wie bei Madonna. Sie vergisst dabei, dass die Gleichheit durch den Tod, die Ungleichheit im Leben sichtbar macht. Es kann zwar jeden treffen, aber es trifft nicht jeden, sondern besonders Verletzliche.

Solidarität ist daher nicht nur ein Wort, sondern muss in Handeln übersetzt werden. Im Kapitel „Solidaritäten“ befassen sich die Autoren mit diesem Verhalten, welches insbesondere in Krisenzeiten in Zivilgesellschaften, bei einzelnen Individuen oder als Begrifflichkeit zu finden ist, ja geradezu eine Konjunktur erlebt. Aber wie nachhaltig ist sie?

Krisenbewältigung und Utopien

Bei einer Pandemie, die wir in diesem Ausmaß und in dieser Schwere in unserer Gegenwart noch nicht erlebt haben, ist eine Diagnose des politischen und gesellschaftlichen Zustandes notwendig. Wie immun erweist sich die Gesellschaft gegen Krisen wie diese? Wie verändert sie soziale Räume – wie werden diese neu refugiriert? Wie stark schränkt sie Mobilitäten ein? Welche neuen Zugänge eröffnet sie?

Sind wir als Gesellschaft in der Lage, die Krise als Wendepunkt zu sehen und nicht in alte Muster zurückzufallen. Voraussetzung dafür ist eine sozialwissenschaftlich fundierte Analyse wie diese, die alle Bereiche der Gesellschaft umfasst. Die Erkenntnisse daraus könnten dazu führen, dass wir unser Klima noch nachhaltiger und stärker schützen, Krankenpflegerinnen zuungunsten kapitalistischer Wirtschaftsführung von Krankenhäusern ausreichend bezahlen. Denn die Krise zeigt uns auch das, was bisher in hohem Maße versäumt wurde.

Und selbst wenn Impfungen uns gegen das Corona-Virus immun werden lässt, könnte Atemnot dennoch zu einem Normalzustand werden, wenn wir nicht noch schneller für besseres Klima und für eine sozialere Gesellschaft sorgen.

Mit analytischer Klarheit und konkreter Deutlichkeit führen die Autorinnen präzise durch den Dschungel gesellschaftlicher Verzweigungen, die das Corona-Virus angegriffen hat. Das Ergebnis lässt dabei aber keine Verzweiflung aufkommen, denn es werden richtungsweisende Orientierung und Perspektiven für mutiges Handeln nach der Krise aufgezeigt. Eine sehr erhellende und hochinteressante Lektüre, nicht nur für Wissenschaftler*innen.

Mit Beiträgen von Frank Adloff, Thomas Alkemeyer/Bernd Bröskamp, Andrea Baier/Christa Müller, Katharina Block, Ingolfur Blühdorn, Sascha Dickel, Klaus Dörre, Frank Eckardt, Angelika Epple, Petra Gehring, Ulrike Guérot, Silke Helfrich, Anna Henkel, Christine Hentschel, Stefan Hirschauer, Gabriele Klein/Katharina Liebsch, Hubert Knoblauch/Martina Löw, Elke Krasny, Stephan Lessenich, Susanne Lettow, Gesa Lindemann, Antonio Lucci, Fred Luks, Katharina Manderscheid, Jürgen Manemann, Jürgen Martschukat, Franz Mauelshagen, Herfried Münkler, Sven Opitz, Andreas Reckwitz, Eleonora Rohland, Simon Scharf, Frank Schulz-Nieswandt, Sarah Speck, Cornelia Springer, Rudolf Stichweh, Andreas Weber, Gabriele Winker und Lars Winterberg.

Michael Volkmer / Karin Werner (Hg.)
Die Corona-Gesellschaft
Analysen zur Lage und Perspektiven für die Zukunft


Verlag: transcript Verlag
Seitenanzahl: 432

ISBN 978-3-8376-5432-5

*laut einer vom Digitalverbands Bitkom beauftragten aktuellen Umfrage

Ingrid
Ingrid

Kunst und Kultur, Musik und Bücher, ohne sie ist ein Leben denkbar, aber für mich sinnlos. Darum habe ich diesen Blog ins Leben gerufen. Es macht viel Spaß, ihn zu gestalten - ich hoffe, den Usern, ihn zu lesen.
Nicht alles, was gedruckt wird, muss gelesen, nicht jedes Album gehört werden. Was die User hier finden, gefällt mir und den Gastautoren, die ab und zu Lust haben, etwas zu schreiben.

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