CROSSROADS – Roman von Jonathan Franzen

„Crossroads“ – Jonathan Franzens sechster Roman ist eine Familiengeschichte. Franzen verlegt sie in eine Vorstadt des Mittleren Westens. Es ist der Winter des Jahres 1971. Der Vietnamkrieg liegt in den letzten Zügen und hat bisher die Familie Hildebrandt, um die es hier geht, verschont. Denn der Familienvater Reverend Russ ist evangelischer Pastor und friedensbewegt. Der älteste Sohn Clem folgt seinem Vater und lässt sich wegen seines Studiums vom Militärdienst freistellen. Sie gehören der weißen Mittelschicht an, wobei ihre finanzielle Situation eher bescheiden ausfällt.

Russ ist ein engagierter Pastor. Eines seiner Projekte ist Crossroads, das die Jugendlichen aus dem Vorort New Prospect und der näheren Umgebung regelrecht anzieht. Der Name ist einem Songtitel von Robert-Johnson entliehen, dessen Musik der begeisterte Blues-Fan Russ besonders liebt. Doch Russ hat auch eine andere Seite. Nach langen Ehejahren ignoriert er seine Frau Marion. Russ hat jegliches Interesse an seiner Frau verloren. Nachdem er bei Crossroads und den Jugendlichen in Ungnade gefallen ist, gründet er einen sozialen Frauenkreis und verliebt sich prompt in eine junge, hübsche Witwe, von der er sich ein neues Leben erträumt.

Doch Franzen lässt alle Figuren seines Gegenwartsromans vor unseren lesenden Augen lebendig werden. Marion, die unter ihrer nach vier Geburten ausgeleierten, übergewichtigen Figur leidet und sich an ihre Zeit als begehrte junge, hübsche Frau erinnert. Damals jedoch behaftet mit moralischem Makel und einer überaus labilen Psyche. Jetzt gefestigter, stehen ihr nur ihre Figur und Moral im Wege, um sich ihrerseits aus ihrer Rolle als Hausfrau zu befreien. Perry, der zweitälteste Sohn, steht ihr sehr nah und ist mit seiner Hochbegabung und einer sensiblen Psyche gefährdet. Er verkauft Drogen an Siebtklässler und schließt sich den Crossroads an, mit dem festen Vorsatz, ein besserer Mensch zu werden. Und dahin geht auch Betty, die glänzende Tochter, beliebt und umschwärmt, der es nach Umwegen gelingt, Gott zu sehen und einen Musiker zu lieben.

Jonathan Franzen ist berühmt für seine Gegenwartspanoramen mit ihren unvergesslich lebendigen Figuren. In „Crossroads“ gelingt es ihm abermals mit feiner Ironie, sehr viel Sympathie und Wärme für seine Protagonisten über deren Leidenschaften, Antipathien, Rivalitäten und Hass mit großer Erzählkraft zu schreiben. „Crossroads“ ist ein Roman, der zudem die religiösen Überzeugungen seiner Figuren und deren Substanz hinterfragt und zeigt, wie leicht sich religiöser Glaube ad absurdum führen lässt.

Der Roman wäre jedoch keiner von Franzen, wenn er nicht hinter dem Mikrokosmos der Familie das große Ganze durchscheinen lassen würde. Komplex, fesselnd und brillant erzählt. Ein großartiges Lesevergnügen!

„Crossroads“ ist Auftakt zu Jonathan Franzens Opus magnum „Ein Schlüssel zu allen Mythologien“ – einer Trilogie über drei Generationen einer Familie aus dem Mittleren Westen.

Crossroads – Jonathan Franzen

Verlag: Rowohlt

Erscheinungstermin: 05.10.2021

832 Seiten

ISBN: 978-3-498-02008-8

Übersetzt von: Bettina Abarbanell

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Ingrid
Kunst und Kultur, Musik und Bücher, ohne sie ist ein Leben denkbar, aber für mich sinnlos. Darum habe ich diesen Blog ins Leben gerufen. Es macht viel Spaß, ihn zu gestalten - ich hoffe, den Usern, ihn zu lesen. Nicht alles, was gedruckt wird, muss gelesen, nicht jedes Album gehört werden. Was die User hier finden, gefällt mir und den Gastautoren, die ab und zu Lust haben, etwas zu schreiben.
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