Buchtipps: Alexa Hennig von Lange und Judith Kuckart

Alles, was jemals passiert, hinterlässt Spuren. Manchmal sind sie lange spürbar, verharren und verdichten sich zu Erinnerungen, Meinungen. Manchmal verflüchtigen sie sich. Wer sie aufschreibt, möchte, dass von einer bestimmten Zeit, einem Leben etwas übrig bleibt. Die Spuren verwandeln sich in Lebensgeschichten oder Biografien, die ein fremdes Leben beschreiben, oder Autobiografen, die das eigene Leben in Worten wiedergeben. Alexa Hennig von Lange hat mit ihrer Roman-Trilogie Heimkehr das Leben einer Frau in einer schicksalhaften Zeit erzählt. Judith Kuckart hat eine literarische Autobiografie zu ihrem bisherigen Leben verfasst, das sich zwischen den Nachrichten, die die Welt bewegten, ereignet hat.

Vielleicht können wir glücklich sein

Im dritten Roman der Trilogie Heimkehr mit dem Titel „Vielleicht können wir glücklich sein“ hat Klara endgültig ihre Tätigkeit als Leiterin des Frauenbildungsheims aufgegeben und widmet sich ganz der Erziehung ihrer vier Kinder. Deutschland befindet sich kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Doch Bombennächte, Hunger und Angst beherrschen die Menschen in Sandersleben ebenso wie in anderen Städten in Deutschland und zermürben sie. Auch Klara sehnt sich nach einem friedlichen Leben mit ihrem Mann, der in Schlesien ums Überleben kämpft. Immer häufiger denkt sie an Tolla, das jüdische Mädchen, das Klara als ihre Tochter ausgegeben hatte und, als die Situation auch im Harz für jüdische Menschen prekärer wurde, über einen Kindertransport nach England in Sicherheit hatte bringen lassen. Nun wusste sie, dass dieses Vorhaben gescheitert war.

Mehr als fünfzig Jahre später nehmen Isabell und ihre Familie Abschied von der Großmutter Klara. Geblieben sind Erinnerungen, die für die Enkelin Isabell nicht ausreichend sind. So gerne hätte sie ihrer Großmutter noch mehr Fragen zu ihrem Leben gestellt, um sie noch besser kennenlernen zu können. Tonbänder und Briefe, die Klara hinterlassen hat, müssen nun Antwort auf ihre Fragen geben. .

„Vielleicht können wir glücklich sein“: Alexa Hennig von Lange erzählt – wie auch in den beiden vorherigen Romanen ›Die karierten Mädchen‹ und ›Zwischen den Sommern‹ – sehr kraftvoll, mitfühlend und authentisch von einem Frauenleben, das einen eigenen Weg in einer dunklen Zeit suchte. Eine Zeitreise, die inspiriert wurde von den Erinnerungen von Alexa Hennig von Langes Großmutter, die diese im hohen Alter auf mehr als 130 Tonbandkassetten aufnahm und die Leser*innen unbedingt miterleben sollten.

Seiten 336
Erscheinungstag: 13.08.2024
ISBN: 978-3-8321-6806-3 Verlag: Dumont

Die Welt zwischen den Nachrichten

„Alles ist gewesen, nichts war genau so“ Judith Kuckert. (…) Unsere Lebensläufe (sind) die Häuser, aus deren Fenster wir Menschen die Welt deuten. Alexander Kluge*

Geboren an einem Tag, der damals für das Gedenken an den Aufstand der Menschen in der ehemaligen DDR stand, will ihr Vater, dass sie Judith heißt. Mit dem zweiten Vornamen Martina wuchs später auch eine Freundschaft zu einem Mädchen, das Martina Judith heißt. Ohne Geschwister aufwachsen, macht frühe Freundschaften notwendig. Ihre Mutter wurde noch dreimal schwanger, doch „… immer sind die Kinder tot“.

Wieder ein Juni, dieses Mal ist es der 2. des Monats im Jahre1967. Judith hat ihre ersten Erfahrungen im Kinderballett gesammelt und sitzt im Balletttrikot und gemeinsam mit ihren Eltern vor der „Tagesschau“. Benno Ohnesorg ist erschossen worden. „Und ich schlug meinem Vater aufs Knie: Papi, wenn ich groß bin, erschieß‘ ich dich auch“. Hat sie jedoch nicht, sondern er starb alt und friedlich an einem Sommertag.

1977, als Baader, Ensslin und Raspe noch in Stammheim lebten, hatte Judith ihr Abitur in der Tasche und dachte noch nicht daran, Schriftstellerin zu werden. Sie wurde Tänzerin. Die 15-jährige Judith hatte sich bei Pina Bausch im Ballsaal des Wuppertaler Opernhauses als 19-Jährige ausgegeben, „Ich stehe an der Stange. Sie zieht an ihrer Zigarette“. Und sie tanzt bis 1989, als sie das letzte Mal auf der Bühne steht und eine Verlegerin den Satz sagt: „Sie könnten auch mal einen Roman schreiben“. Zuvor geht sie so oft wie nur möglich ins Kino, bekommt eine Stelle beim Berliner Tagesspiegel und schreibt über Filme. Ihre Mutter stirbt und zurück bleibt ihr Lächeln.

Wie schreibt man eine Autobiografie? Vielleicht fragt man bei Judith Kuckart nach. Oder noch besser, man liest diese einzigartige Autobiografie, die sehr lesenswert und sprachlich exzellent sowie atmosphärisch dicht die vergangenen Jahre literarisch einfängt. Dabei gibt es keine streng Chronologie, sondern differenziert und individuell eine Erzählung von tatsächlichen Begebenheiten, entfremdeten, erduldeten und wunderbaren Gefühlen und einen literarischen und höchst berührenden Blick auf eine ganze Generation.

Seiten: 192
Erscheinungstag: 13.08.2024
ISBN: 978-3-8321-6846-9
Verlag: Dumont

Das Zitat von Alexander Kluge stammt aus dem Roman von Judith Kuckart

Ingrid
Ingrid

Kunst und Kultur, Musik und Bücher, ohne sie ist ein Leben denkbar, aber für mich sinnlos. Darum habe ich diesen Blog ins Leben gerufen. Es macht viel Spaß, ihn zu gestalten - ich hoffe, den Usern, ihn zu lesen.
Nicht alles, was gedruckt wird, muss gelesen, nicht jedes Album gehört werden. Was die User hier finden, gefällt mir und den Gastautoren, die ab und zu Lust haben, etwas zu schreiben.

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