The Who: Who – die Legende lebt und bebt

Kaum ein Mitglied der Rock-Aristokratie hat die Vorstellung, ein Rockstar zu sein, wohl so sehr erschreckt wie den britischen Gitarristen Pete Townshend. The Who sollten nicht einmal eine Band sein, sagte er einmal 2006 in einem Interview. Für den Musiker waren sie eine Art Kunstprojekt, gewissermaßen der praktische Teil einer Abschlussarbeit, die er unter dem Einfluss von Gustav Metzgers Konzept der Kunst als Akt der Selbstzerstörung geschrieben hatte und in der er ankündigte, dass sich The Who trennen würden, sollten sie jemals berühmt werden.

Später schlug er gar vor, die Band könnte sich auch auf der Bühne mit Benzin übergießen und in Brand setzen, um ihrem Ruhm ein Ende zu bereiten.

Glücklicherweise hat Townshend seine autoaggressiven Phantasien sublimiert, indem er zu einem der innovativsten Songwriter und Performer wurde, den die Geschichte der Rockmusik jemals hervorgebracht hat. Die Selbstzerstörung war jetzt keine Option mehr. Stattdessen begnügte er sich damit, metaphorisch um sich zu schlagen, indem er Songs schrieb, in denen er beständig Krieg führte: gegen die Alten und ihre Spießermoral, gegen die Ungerechtigkeit des sozialen Klassensystem, das die Reichen privilegierte, gegen die eingefahrenen Vorstellungen über Geschlechterrollen und gegen die Kommerzialisierung des Pop, die verhindere, dass die Musik das war, was sie sein könnte.  Selbst seine eigene Band, The Who, und deren Publikum waren von seinen Attacken gelegentlich nicht ausgenommen.

Vierzig Jahre später befindet sich Beziehung ihrer beiden überlebenden Mitglieder offenbar noch immer in einem prekären Zustand – ihr neues Album WHO wurde aufgenommen, ohne dass sich Townshend und Daltrey bei den Aufnahmen jemals im Studio begegnet wären.

Klar, dass angesichts des Jahrgangs der Musiker manche der elf Songs auch Selbstreferenzen an das eigene Werk enthalten. Das fantastische „Detour“ weckt Reminiszenzen an den Klassiker „Magic Bus“ aus dem Jahre 1968. Um den „Street Song“ flattern ähnliche nervöse Synthie-Loops wie beim Stück „Baba O’Riley“ aus dem Album „Who’s Next“. Und die akustische Gitarre auf „I Don’t Wanna Get Wise“ erinnert an die griffigen Akkordfolgen des Intros zu „Substitute“.  

Doch das eigentlich Bandtypische des Albums ist wohl die Art und Weise, wie die Songs immer wieder die Frage nach der eigenen Relevanz der Band stellen. „I Don’t Wanna Get Wise“ betrachtet die Rockmusikerkarriere als unvermeidbaren Niedergang von einst rotzfrechen Kids zu übersättigten, aufgeblasenen und selbstgefälligen Spießern. Und der Song „Rockin‘ in Rage“ thematisiert den Gegensatz der Angst vor dem Alter und dem ungebrochenen Verlangen, weiterhin kreativ zu sein. „I’m too old to fight … I don’t have a right to join the parade” und “…you know you must write, you know must rage”, heißt es da. 

Nicht alles funktioniert gleich gut. Songs mit politischen Texten sind ja an sich nichts Falsches. Doch „Ball and Chain“, eine Kritik am Gefangenenlager Guantanamo Bay, kommt ein wenig kopflastig und schwerfällig daher. Das hippieske „Beads on One String“ wiederum beschwört ein wenig süßlich Lennons Ideal einer weltweiten Solidarität und der Potenziale des Friedens. Geradezu spannend zu hören sind demgegenüber Townshends stimmungsmäßigen Schwankungen. Soeben erscheint er noch resigniert, erklärt, er fühle sich alt und verbraucht, um kurz darauf sich auf seine nächste kraftvolle Attacke vorzubereiten. Der von der Grenfell-Katastrophe inspirierte Street Song entlädt aufs Neue die ungestüme Wucht der Wuthymne des ewig jungen Who-Klassikers „We Won’t Get Fooled Again“.  Daltreys Gesang fügt sich in diese wechselvollen Stimmungen wunderbar nahtlos ein. Schroffer und verwitterter als je zuvor, verleiht seine Stimme den Texten den Anstrich mühsam erkämpfter Lebenserfahrung.

Nein, gestorben sind sie nicht, bevor sie alt wurden. Trotz ihrer prekären Beziehung haben sich die beiden letzten überlebenden Mitglieder der britischen Rocklegende The Who, Roger Daltrey und Pete Townshend, 13 Jahre nach ihrem letzten Studioalbum noch einmal zusammengetan, um WHO zu machen. Ein mutiges, großartiges Album, auf dem sie sich mit ihrem musikalischen Erbe auseinandersetzen und das einmal mehr zeigt: die Legende bebt.

Label: Polydor, 2019 – VÖ : 6.12.2019

Tracklisting: Who

  • All This Music Must Fade
  • Ball and Chain
  • I Don’t Wanna Get Wise
  • Detour
  • Beads On One String
  • Hero Ground Zero
  • Street Song
  • I’ll Be Back
  • Break The News
  • Rockin’ In Rage
  • She Rocked My World
Standardbild
Hans Kaltwasser
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