Michael Price: Tender Symmetry

Was ist der Geist eines Bauwerks oder eines Ortes? Gibt es ihn überhaupt, und wenn ja, ist ein solcher „genius loci“ in einem Musikstück darstellbar? Der britische Komponist und Emmy-Award- Preisträger Michael Price scheint von der Idee einer irrealen Konstruktion singender und klingender Bauwerke gefangen zu sein. Bereits 2015 unternahm er in seinem Album ENTANGLEMENT den Versuch, diese Magie in einem alten Berliner Schallplattengeschäft aus dem Jahre 1930 aufzuspüren und zu vertonen.

Auf seinem neuen, TENDER SYMMETRY betitelten Album entwickelt er dieses Konzept jetzt einen Schritt weiter. Gemeinsam mit der für Denkmalspflege und Naturschutz zuständigen britischen Organisation National Trust hat Price sieben denkbar unterschiedliche, historisch bedeutsame Orte in England ausgewählt. Unter ihnen befindet sich Speke Hall, ein herrschaftlicher Landsitz im Tudorstil des 16. Jahrhunderts in Speke, einem Stadtteil von Liverpool. Auch Quarry Bank, eine Textilmühle in Wilmslow Cheshire, aus der Zeit der industriellen Revolution wurde in die Auswahl ebenso aufgenommen wie die Ruinen des grandiosen Zisterzienserkloster Fountains Abbey im englischen North Yorkshire.

Ein siebtes Bauwerk kam noch hinzu, das allerdings nicht dem National Trust gehört, die All Hallows Church, eine prächtige Kirche aus dem späten 19. Jahrhundert in Gospel Oak, einem Stadtteil im Nordwesten von London. Jede dieser Stätten diente als Quelle der Inspiration und Ort für die eigentlichen Aufnahmen, bei denen verschiedene Chöre, ein Streichquartett und die Sopranistin Grace Davidson mitwirkten.

Das Ergebnis sind sechzehn sublime, tief berührende Kompositionen, darunter das Stück „Fan Bay“, eine düstere, minimalistische, von weichen Orgeltönen und nachdenklichen Celloklängen getragene Melodie, über der eine liebliche männliche Gesangsstimme schwebt. Die Aura des Stücks wird dabei durch die Charakteristik des Ortes verstärkt, an dem es aufgenommen wurde – ein tief in die Kreidefelsen von Dover gehauenes verschlungenes Tunnelsystem, in dem im 2. Weltkrieg junge Soldaten monatelang ausharren mussten und um ihr Leben bangten.

Abrupte Stimmungswechsel zeichnen das Stück „Willow Road“ aus, das in dem 1939 von dem ungarisch-britischen Architekten Ernő Goldfinger erbauten Haus aufgenommen wurde,  dessen Charme auf einem schroffen Gegensatz zwischen der nüchternen, modernistischen Fassade und seinem eleganten, stilvollen Innenleben beruht. Ihren passenden musikalischen Ausdruck finden solche Antinomien bei Price hier in Form eines Kammerstücks, das von einer ruhigen Spielweise der Streicher zu lebhaften, sich ständig wiederholenden rhythmischen Figuren wandelt, bevor sich eine schleichende Spannung aufbaut, die in einem markanten Gegensatz zu den eingangs kaum hörbaren Stimmen von Kindern stehen, die draußen vor dem Haus spielen.

Das längste und dynamischste Stück des Albums ist das fast elfminütige „Speke“, das sich durch mehrere Sätze, von anmutigen Klängen bis hin zu zum grandiosen Tutti, bewegt und den Zuhörer gleichsam durch die verschiedenen Räume des restaurierten Tudor-Anwesens  führt, wo es aufgenommen wurde.  Die Sopranistin führt dabei ein wehmütiges Zwiegespräch, während man aus dem Hof eine Vogelschar hört.

Einige Kompositionen enthalten gesungene Textauszüge aus der Gedichtsammlung „Songs of Innocence and Experience“ des englischen Romantikers William Blake, denen Grace Davidsons makellose Sopranstimme eine gleichsam überirdische Stimmung verleiht. Tatsächlich ist der Titel des Albums TENDER SYMMETRY auch eine kaum verhüllte Referenz auf eine Zeile aus Blakes Gedicht „Der Tiger“, in dem von der „fearful symmetry“ des Geschöpfes die Rede ist.

Für Price, der sich selbst als Liebhaber und Bewunderer von Architektur bezeichnet, ist die „Zarte Symmetrie“ ein Zeichen des Trostes und der Ruhe, die ein Gebäude spenden kann, egal ob es sich um eine Kathedrale, Wohnhaus oder ein Industriegebäude handelt.

Auch wenn am Ende die Frage kaum beantwortet werden kann, ob der Geist eines Bauwerks in einem Musikstück dargestellt werden kann, ist TENDER SYMMETRY eine grandiose Einladung, die Gegenständlichkeit menschlicher architektonischer Schöpfungen einmal anders zu erleben und eine, der man sich kaum entziehen kann.

Artist: Michael Price
Album: Tender Symmetry

VÖ: 31.08.2018
Label: Erased Tapes
Vertrieb: Indigo/ Finetunes
Titelfoto: Alex Kozobolis

Standardbild
Hans Kaltwasser
Artikel: 427

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