Maurizio Bettini – Wurzeln // Die trügerischen Mythen der Identität

„I got no roots“, klagt Alice Merton in ihrem populären Song, der gerade auf allen Kanälen rauf- und runtergespielt wird und drückt dabei vielleicht mehr über den Zeitgeist aus als ein Heimatministerium, das die Koalitionsverhandlungen zwischen SPD und CDU/CSU beschlossen haben. Heute scheint es vielen Menschen wichtig zu sein, sich an Traditionen und Wurzeln zu erinnern. Sie verbinden gleichermaßen damit das Bewusstsein, eine kulturelle Identität zu besitzen.

Verwurzelt zu sein, dieses Bild beschwört jedoch Unbeweglichkeit und Unveränderbarkeit herauf. Es steht im konträren Widerspruch zur mobilen Gesellschaft, in der wir heute leben. Niemals zuvor hatten die Menschen die Möglichkeit, andere Länder und deren Kulturen kennenzulernen, sich zu verändern und „no roots“ zu haben, wie in der heutigen Zeit. Und das, auch ohne an einem Verlust der persönlichen Identität zu leiden.

Der Rückgriff auf die Begriffe Tradition, Wurzel und Identität gipfeln möglicherweise in dem Appell des US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump, „American first“, und auch wir Europäer sind nicht davon verschont geblieben.

Da mag es vielleicht besonders interessant und wichtig sein, die Bedeutung dieser Begriffe und Metaphern zu beleuchten und zu hinterfragen. Woher rührt deren identitätsstiftende Kraft? Was steckt wirklich dahinter? Der Anthropologe und Philosoph Maurizio Bettini hat sich in seiner faszinierenden Analyse mit diesen Fragen auseinandergesetzt.

Wer sich auf die Traditionen seines Landes beruft, glaubt, dass er dabei auch auf die Geschichte seines Landes zurückgreift. Tradition ist umso beständiger „je älter sie ist oder (….) je weiter ihre Wurzeln in die Verganheit zurückreichen“ (S. 47). Seit es die Schriftsprache gibt, hat sie einen mächtigen Verbündeten, um sie zu vermitteln. Aber auch, um sie zu deuten und gegebenfalls umzudeuten.

Das kollektive Gedächtnis

Forschen wir in unsereren eigenen Erinnerungen aus unserer Kindheit, so sind wir oft überrascht, wenn unsere Erinnerungen an ein bestimmtes Ereignis sich nicht mit denen unseres Bruders oder unserer Schwester decken. Auch das kollektive Gedächtnis ist vor solchen Inkongruenzen nicht gefeit, obwohl die Ereignisse der Gegenwart vielfach erinnert oder niedergeschrieben werden. Das kollektive Gedächtnis beinhaltet ebenfalls Ungenauigkeiten, rekonstruierte Gegebenheiten, die entsprechend der jeweiligen Traditionen abgeändert wurden.

Worauf können wir uns denn dann verlassen, oder warum sollen wir uns überhaupt auf Traditionen berufen? Tummeln wir uns nicht eher in einem globalen Strom, der gespeist wird von verschiedenen Nebenflüssen, die uns mitziehen, vielleicht auch manchmal für eine Weile festhalten, um uns erneut mitzureißen, neue Impulse zu geben und uns nicht erstarren zu lassen?

Eine Lektüre, die auf eine höchst unterhaltsame, ironisch manchmal, aber immer kluge Weise informiert und dazu motiviert, unsere Aufnahmefähigkeit für andere Menschen und Kulturen zu trainieren, Fremdenhass und Engstirnigkeit zu überwinden.

Maurizio Bettini
Wurzeln
Die trügerischen Mythen der Identität

ISBN: 978-3-95614-235-2
Verlag: Kunstmann

Maurizio Bettini, geb. 1947, lehrt als Professor für klassische Philologie an der Universität Siena und leitet das Institut für Anthropologie der antiken Welt. Er ist Autor und Herausgeber zahlreicher Bücher zur Mythologie und Anthropologie und schreibt regelmäßig für »La Repubblica«.

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Ingrid
Kunst und Kultur, Musik und Bücher, ohne sie ist ein Leben denkbar, aber für mich sinnlos. Darum habe ich diesen Blog ins Leben gerufen. Es macht viel Spaß, ihn zu gestalten - ich hoffe, den Usern, ihn zu lesen. Nicht alles, was gedruckt wird, muss gelesen, nicht jedes Album gehört werden. Was die User hier finden, gefällt mir und den Gastautoren, die ab und zu Lust haben, etwas zu schreiben.
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