Lubomyr Melnyk: Illirion

„Illirion“ heißt das vor kurzem erschienene Debütalbum des Pianisten Lubomyr Melnyk bei Sony Classical, das fünf Kompositionen und von ihm selbst eingespielte Stücke für Klavier umfasst. Melnyks Musik ist bewegt, unruhig, melodiös, meditativ und chaotisch zugleich – ein unentwegt an- und abschwellender Strom rasend schnell gespielter, arpeggierender Akkorde, der den Zuhörer unweigerlich gefangen nimmt und hypnotisiert.
Der in München geborene 67jährige Musiker mit ukrainischen Wurzeln, der in Kanada aufwuchs, ist möglicherweise der schnellste Pianist der Welt. 19,5 Einzelnoten pro Sekunde soll er dem Vernehmen nach spielen können. Ausklang und Stille haben dabei natürlich kaum Platz in der im Laufe langer Jahre entwickelten und stetig verfeinerten Klaviertechnik Melnyks, die er selbst „Continuous Music“ nennt und über die er eine Abhandlung verfasst hat. Durch Drücken des Fortepedals lässt er die angeschlagenen Töne unendlich lange klingen, nutzt die Resonanz der gedämpften Saiten seines Flügels und baut so voluminöse und phantomhafte Melodienlinien auf.
Die Klaviertechnik der „Continuous Music“ hat Melnyk ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit als schnellsten Pianisten der Welt beschert. Die Anerkennung der Fachwelt oder gar nennenswerter kommerzieller Erfolg blieben ihm indessen bislang weitgehend versagt. Der Grund hierfür ist vielleicht auch, weil er in das herkömmliche Raster der Musikindustrie nicht so recht hineinpassen wollte: Für die Klassikabteilung war sein Klavierspiel, das Einflüsse von US-Minimalisten wie Steve Reich und Terry Riley aufweist, zu unorthodox, für die experimentelle Musikszene wiederum zu traditionell.
Wie dem auch sei. Heute sind die Grenzen nicht mehr ganz so starr und New Age ist längst nicht mehr das geschmähte Genre, das es einstmals war. Und es gibt andere Parallelen. Wer Postrock-Bands wie Godspeed You! Black Emperor oder Explosions in the Sky mag, dem dürften auch die rasanten Akkordwechsel und ansteigenden Crescendos auf Melnyks Album „Illirion“ gefallen. Zudem erinnert das ununterbrochene Klavierspiel mit seinen langgezogenen Wiederholungen und der schlichten Harmonik, wenngleich es in der Klassik verwurzelt ist, irgendwie an die Synthesizer-Kaskaden der 70ziger Jahre, die die musikalische Signatur von Gruppen wie Tangerine Dream oder Ashra waren. Freilich stammt Melnyks außergewöhnliche Musik nicht aus einer Maschine und beruht nicht auf dem Drehen an irgendwelchen Knöpfen, sondern ist zutiefst menschlich und das Ergebnis höchster geistiger, nach Perfektion strebender Konzentration und ekstatischer Energie.

http://www.lubomyr.com
https://www.facebook.com/lubomyrmelnyk/
https://www.sonyclassical.de

Foto: Sony Music

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Hans Kaltwasser
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