Jesmyn Ward – Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt

Jojo weiß, wie er sich zu verhalten hat, wenn er mit Pop eine der Ziegen zum Schlachten aus der Schar der blökenden und stupsenden Tiere herausholt. Er weiß, dass er keine Schwächen zeigen darf, obwohl er sich nicht wohlfühlt. Sein Großvater, den er Pop nennt und den er auch als seinen richtigen Vater empfindet, behandelt die Tiere respektvoll, und doch enden sie später in der Pfanne. Seine Mam wird gleich die Leber des Tieres, nur kurz angebraten, weich und nährreich serviert bekommen. Sie ist an Krebs erkrankt und für JoJo und seine kleine Schwester Kayla ersetzen seine Großeltern die Eltern. Denn Leonie, ihrer Mutter, fehlt jeglicher Mutterinstinkt, sie war zu jung bei ihrer Geburt, jetzt nimmt sie Drogen, die sie nur noch selbstbezogenener machen. Michael, der biologische Vater der beiden Kinder sitzt im Gefängnis. Leonie arbeitet in einer Bar, und wenn sie high ist, sieht sie ihren toten Bruder Given, den ein Weißer, ein Cousin von Michael, bei der Jagd erschossen hat.  Sind es Schuldgefühle, die diese Visionen hervorrufen und sich ungehemmt einen Weg bahnen, um sie zu quälen.

Sie liebt Michael, seine helle Haut und schlanke Gestalt, die rotblonden Locken. Als er aus dem Gefängnis entlassen wird, ist sie euphorisch und will ihn mitsamt ihrn Kindern und einer Freundin von der »Parchman Farm«, dem staatlichen Zuchthaus abholen. Ein Ort, der bereits zuvor eine schicksalhafte Rolle in ihrer Familie gespielt hat. Die Reise wird zu einem gefahrvollen Abenteuer, insbesondere für die kleine Kayla.

Die Autorin Jesmyn Ward erzählt berührend und voller Empathie die Geschichte einer Familie, die im amerikanischen Süden lebt. Die Zeit scheint dort seit langem still zu stehen. Armut und Rassismus prägen die schwarze Familie wie Jahrhunderte zuvor. Umso stärker sind die familiären Bindungen, der Zusammenhalt, festgezurrt durch die Großeltern. Es sind deren Liebe, Vorstellungen und Wissen, die die reale Welt durchschaubar machen. Durchdrungen von mystischen Wahrheiten ordnet sich, was unerklärbar und verworren wirkt.

Ein großer erschütternder Roman, der die noch heute existierende Kluft zwischen Weißen und Schwarzen sichtbar macht.

Jesmyn Ward

Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt

ISBN: 978-3-95614-224-6

Verlag: Kunstmann

Jesmyn Ward

Jesmyn Ward, geb. 1977, wuchs in DeLisle, Mississippi, auf. Nach einem Literaturstudium in Michigan war sie Stipendiatin in Stanford und Writer in Residence an der University of Mississippi. Sie lehrt derzeit Englische Literatur an der Tulane University in New Orleans. Jesmyn Ward ist die erste Frau, die zweimal mit dem wichtigsten amerikanischen Literaturpreis, dem National Book Award, ausgezeichnet wurde: für „Vor dem Sturm“ (Kunstmann, 2013) und für „Singt, ihr Lebenden und ihr Toten, singt“ (Kunstmann, 2018). 2017 wurde ihr auch der MacArthur Genius Grant verliehen.

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Ingrid
Kunst und Kultur, Musik und Bücher, ohne sie ist ein Leben denkbar, aber für mich sinnlos. Darum habe ich diesen Blog ins Leben gerufen. Es macht viel Spaß, ihn zu gestalten - ich hoffe, den Usern, ihn zu lesen. Nicht alles, was gedruckt wird, muss gelesen, nicht jedes Album gehört werden. Was die User hier finden, gefällt mir und den Gastautoren, die ab und zu Lust haben, etwas zu schreiben.
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