Gehe hin, stelle einen Wächter

Die USA in den frühen sechziger Jahren. Die 26-jährige Jean Louise Finch will den Sommer in ihrer Heimat Maycomb in Alabama verbringen. Die Unterschiede zwischen New York und dem Ort, wo sie geboren wurde und ihre Kindheit verbracht hat, könnten nicht größer sein. Doch sie liebt ihren Vater Atticus und freut sich, ihn endlich wieder zu sehen. Ihr Jugendfreund Henry wartet auf sie, als der Zug wie immer nicht in Maycomb Junction am Bahnhof hält, sondern einige Meter weiter – ein Spaß, den sich die Zugführer jedes Mal wieder leisten, wenn eine junge Frau dort aussteigen will.
Alles wie immer? Nein, doch das erfährt Jean Louise erst nach und nach. Es ist etwas anders geworden.
Immer wenn sie durch die Straßen ihrer Heimatstadt geht, holen sie Erinnerungen an ihre Kindheit ein. Am häufigsten die, die sie mit ihrem Bruder Jem gemacht hat und natürlich mit Henry, der sie jetzt unbedingt heiraten will. Doch die Vorstellung, einmal so zu werden, wie die jungen Frauen in Maycomb, die auf jedes Wort ihres Ehemanns hören und selbst zu keiner eigenen Meinung fähig sind, das widerspricht gänzlich ihrem Naturell. Sie, die wortgewandt und eigensinnig schon als Kind wusste, was sie wollte. Nur Atticus Meinung war und ist die Einzige, der sich Jean Louise bereitwillig anschließt  Ihr Vater hat sie und ihren Bruder Jem nach dem frühen Tod der Mutter alleine aufgezogen – mit Hilfe der schwarzen Haushälterin Calpurnia.

Es gibt kein kollektives Gewissen

Als an einem Sonntag Atticus und Henry ins Gerichtsgebäude gehen und Jean Louis nicht weiß warum, folgt sie ihnen. Wie damals als Kind gemeinsam mit ihrem Bruder Jem, beobachtet sie nun allein von einem abgehängten Balkon aus das Geschehen. Insbesondere eine Gerichtsverhandlung kommt ihr jetzt in den Sinn. Ihr Vater verteidigt einen schwarzen Mandanten, der angeblich eine weiße Frau vergewaltigt haben soll. Der Anwalt erzielt keinen Freispruch, sein Sieg ist ein moralischer. Atticus ist anständig, unbestechlich und auf der Seite der Schwachen. Und jetzt sieht Jean Louise ihn und Henry zwischen Rassisten übelster Sorte sitzen. Ihre Welt bricht zusammen. Was hat ihren Vater so verändert?

Sie stellt ihn später zur Rede, beschimpft ihn, als er ihr erklärt, dass er und die Bürger von Maycomb um die Privilegien der weißen Einwohner fürchten. Deswegen engagiert er sich im Bürgerrat für Segregation. Dass Schwarze volle staatsbürgerliche Rechte erhalten sollen, ist selbst dem gesetzestreuen und gerechten Anwalt eine grauenvolle Vorstellung. Doch Jean Louise ist „farbenblind“ – die Kluft zu ihrem Vater scheint plötzlich unüberwindbar. Die Idealisierung zerbricht, und sie wird sich ihres eigenen Gewissens deutlich bewusst.

Auch wenn man den zuerst veröffentlichten Roman „Wer die Nachtigall stört“ nicht kennt, es sind dieselben Menschen, dieselben Orte, jetzt aber aus der Sicht einer jungen Frau erzählt. In den USA der sechziger Jahre ist die Welt so, wie sie ist, für die Weißen in Ordnung.Sie haben das Sagen, und die Schwarzen werden in ihrer bescheidenen, diensthabenden und schweigenden Rolle geduldet, und zwar nur solange. Es gibt keinen Widerspruch zu dieser Haltung – und als die NAACP (die National Association for the Advancement of Colored People) immer heftiger das tut, wofür sie da ist, kommt es zum Widerstand in der weißen Bevölkerung.

Der Roman ist einmal die Bildungsgeschichte einer jungen Frau, deren Über-Ich deutliche Spuren ihres abgöttisch geliebten Vaters aufweist, ja aufweisen muss. Die Identifizierung mit dem Vater bekommt Risse und erst dadurch gelingt der Tochter die notwendige Abnabelung, die ihr erst ein Leben als erwachsene Frau möglich macht. Es ist aber auch ein Roman gegen Rassismus und für Gleichheit und Unabhängigkeit. Farbige Menschen brauchen heute wie damals Menschen, die farbenblind die Gleichheit aller sehen, um in einem weiteren Schritt deren Unabhängigkeit mit einzufordern.

Ein Roman, der angesichts der wieder stärker werdenden rassistischen Übergriffe in den USA, aber auch bei uns, eine wichtige und berührende Lektüre ist.

Gehe hin, stelle einen Wächter
Harper Lee

Roman

Originaltitel: Go Set A Watchman
Originalverlag: Harper Collins
Aus dem Englischen von Ulrike Wasel, Klaus Timmermann

ISBN: 978-3-421-04719-9

Verlag: DVA Belletristik

Standardbild
Ingrid
Kunst und Kultur, Musik und Bücher, ohne sie ist ein Leben denkbar, aber für mich sinnlos. Darum habe ich diesen Blog ins Leben gerufen. Es macht viel Spaß, ihn zu gestalten - ich hoffe, den Usern, ihn zu lesen. Nicht alles, was gedruckt wird, muss gelesen, nicht jedes Album gehört werden. Was die User hier finden, gefällt mir und den Gastautoren, die ab und zu Lust haben, etwas zu schreiben.
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