Der Brief – Carolin Hagebölling

Marie, Anfang 30, ist mit ihrem Leben im Einklang – ihr Job als Journalistin in Hamburg bereitet ihr Spaß und die Beziehung zu Johanna, mit der sie zusammenlebt, ist glücklich. In diese Idylle platzt ein Brief, der Marie aus der Bahn wirft. Er ist von ihrer Jugendfreundin Christine, die sie lange nicht gesehen hat. Der Inhalt des Briefes hat jedoch rein gar nichts mit Maries Lebenswirklichkeit zu tun; vielmehr beschreibt er Marie als verheiratet mit Viktor, einem erfolgreichen Galeristen, der mit Marie in Paris wohnt, und von Maries lebensbedrohlicher Krankheit. Nichts davon trifft zu und trotzdem besitzt der Brief für Marie eine unterschwellige Wahrheit und Bedrohlichkeit, die sie emotional sehr beeinträchtigt. Gerne würde sie dies alles als Missverständnis beiseiteschieben, wie ihre Geliebte Johanna es tut. Doch als bald darauf wieder eine Nachricht auftaucht, macht sie sich auf den Weg zu ihrer Freundin Christine. Marie will endlich Klarheit.

Tatsächlich hat Christine ein schreckliches Erlebnis hinter sich, das sie und ihre Ehe auf eine harte Probe gestellt hat. Konnte Christine das nicht verkraften? Obwohl sie bestreitet, den Brief geschrieben zu haben, steckt sie vielleicht doch dahinter? Ohne wirklich neue Erkenntnisse gewonnen zu haben, fährt Marie nach Hamburg zurück. Doch ruhelos, wie sie ist, unternimmt sie eine neue Reise. Sie fährt nach Paris zu ihrem früheren Kommilitonen André. Dort wird sie herzlich empfangen und trifft auf einen Galeristen, der Viktor heißt, den sie sehr attraktiv findet und mit dem sie sich auf unerklärliche Weise verbunden fühlt. Hatte sie ein anderes Leben, das ihr Bewusstsein erfolgreich verdrängt hat und jetzt in modifizierten Szenen wieder zu ihr zurückkehrt? Oder will jemand, dass sie verrückt wird?

Der sehr gelungene Debütroman liest sich beinahe wie ein Krimi, doch die Autorin hat mit ihrer Geschichte eine Tür zu einer anderen Welt aufgestoßen, die geheimnisvoll ist, aber durchaus im Bereich des Möglichen liegt. Vielleicht weist unser Gehirn solche Fähigkeiten auf, neuronale Netzwerke eines anderen geliebten Menschen, mit dem man verbunden war, zu übernehmen. Identität als Muster, das transportabel ist. Ein ungewöhnliches Thema, sehr lesenswert umgesetzt.

Der Brief
Carolin Hagebölling

978-3-423-26146-3
Verlag: dtv

Carolin Hagebölling lebt seit 2010 als freiberufliche Texterin, Konzeptionerin und Redakteurin in München und Düsseldorf. Sie liebt die Berge, das Reisen, das Schreiben und den Blick über den eigenen Horizont.

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Ingrid
Kunst und Kultur, Musik und Bücher, ohne sie ist ein Leben denkbar, aber für mich sinnlos. Darum habe ich diesen Blog ins Leben gerufen. Es macht viel Spaß, ihn zu gestalten - ich hoffe, den Usern, ihn zu lesen. Nicht alles, was gedruckt wird, muss gelesen, nicht jedes Album gehört werden. Was die User hier finden, gefällt mir und den Gastautoren, die ab und zu Lust haben, etwas zu schreiben.
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